6 | Some days it feels like you just can't win, no matter what you do or say

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Marlon eilte die Straße, in der sein Atelier lag, entlang, denn wie er hatte feststellen dürfen, war er viel zu spät dran. Zwar gehörte ihm das Schneideratelier, aber dennoch hasste er es zu spät zu kommen. Zudem hatte er recht viele Aufträge auf dem Tisch und seine Mitarbeiterin und gute Freundin Hailey würde misstrauisch werden, wo er denn bliebe.

„Ist bei dir wohl alles in Ordnung?", fragte Hailey zehn Minuten später wie erwartet, als Marlon abgehetzt die Tür zum Atelier öffnete. Sie saß bereits an der Nähmaschine und bearbeitete ein monströs wirkendes Abendkleid in einem ekelhaften Popelgrün.
„Ja", keuchte Marlon und hängte sein Jackett an den Kleiderständer. „Kam nur.. was dazwischen."
Hailey hob eine Augenbraue, sagte jedoch nichts.

Marlon eilte in die kleine anliegende Küche und schenkte sich erst einmal einen Kaffee ein. Er atmete tief durch und schloss die Augen, um seine Konzentration wiederzufinden.
„Bringst du mir einen mit?", rief Hailey von vorn und im gleichen Moment ertönte das kleine Glöckchen, das die Ankunft eines neuen Kunden signalisierte.

*~*~*

„Meinen Sie, bis zur Hochzeit meiner Tochter passe ich in dieses Kleid?", fragte die etwas umfangreiche Mrs. Frazier. Marlon nahm das Maßband von ihrer üppigen Hüfte und sah sie ernst an. Das Kleid, das sie zur Änderung mitgebracht hatte, war ein hellblaues Etuikleid in Größe zweiundvierzig, wobei die gute Mrs. Frazier wohl zuletzt vor der Geburt ihrer bald heiratenden Tochter in eine Zweiundvierzig gepasst hatte.

„Wann ist denn die Hochzeit?", fragte Marlon vorsichtig.
„In zehn Tagen", erwiderte Mrs. Frazier ungeduldig. Hailey hob hinter ihrer Nähmaschine die Augenbraue und blähte ihre Wangen auf, was Marlon ein Schmunzeln entlockte.
„Nun", versuchte Marlon diplomatisch zu beginnen. „Ich fürchte, das ist etwas.. knapp."

Mrs. Fraziers Augen weiteten sich panisch, doch Marlon hob beruhigend die Hände.
„Jedoch", fuhr er fort. „Habe ich Stoff in genau dieser Farbe noch im Lager, so dass ich Ihnen das Kleid anpassen könnte."
„Oh, Mr. Stewart", freute sich Mrs. Frazier überschwänglich und zog ihn mit ihren speckigen Armen an ihren ausladenden Busen, um ihn mütterlich zu umarmen. „Sie sind mein Retter!"

Marlon ächzte gequält und sah verzweifelt über ihre Schulter. Draußen vor dem Schaufenster erblickte er einen weiß-blauen Lieferwagen mit der Aufschrift ‚Watts & Söhne'. Geschockt stieß er sich von Mrs. Frazier ab und stürzte zur Tür.
„Bin gleich zurück," rief er und verschwand aus dem Atelier.

Der Lieferwagen, dessen Fahrer ganz eindeutig Rick war, hielt gerade an der roten Ampel auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor Marlons Atelier. Marlon erkannte Ricks blonde Haare sofort und dass jemand Dunkelhaariges neben ihm auf dem Beifahrersitz saß. Liam!

Die Fußgängerampel sprang gerade auf rot, doch Marlon rannte los, direkt zu auf den Lieferwagen. Als er die vielbefahrene Straße zur Hälfte überquert hatte, wechselte die Ampel für die Autos auf grün und der Lieferwagen setzte sich in Bewegung, ehe Marlon ihn erreichen konnte.

Ein silberner PKW hupte entnervt, als Marlon ihm den Weg versperrte und er sprang schnell zur Seite, nun mitten zwischen fahrenden Autos. Ein weiteres Auto hupte und Marlon stellte fest, dass es ein Taxi war. Er riss dessen Beifahrertür auf, sprang hinein und rief: „Folgen Sie diesem Wagen!", während er auf den sich allmählich entfernenden Lieferwagen zeigte.

„Entschuldigung, aber wir wollen zum Flughafen und Sie sind weder Tom Cruise noch Bruce Willis, also raus aus meinem Taxi!", brüllte eine entsetzte Geschäftsfrau von der Rückbank. Marlon sah den verdatterten Taxifahrer, der kaum älter als siebzehn sein konnte, verzweifelt an, doch dieser zuckte nur mit den Schultern und sagte: „Die Lady fährt schon seit der Dreiundsechzigsten mit, Mister."

Beschämt und wütend stieg Marlon aus dem Taxi und eilte zum Bürgersteig, um nicht gleich Opfer eines fahrenden Trucks zu werden, der laut hupend an ihm vorbeisauste. Verzweifelt blickte er in die Richtung, in die der Lieferwagen gefahren war, doch natürlich war von seiner weiß-blauen Lackierung nichts mehr zu sehen.

Seufzend trottete Marlon zurück zum Atelier, wo ihn Hailey und Mrs. Frazier verwirrt musterten.

*~*~*

„Ein Terryaki-Sandwich mit extra Mayo bitte", bestellte der heute nun schon zwölfte Kunde, den Liam bediente. Geduldig drückte er die weiße Paste aus der Tube auf das Brot und hing seinen Gedanken nach. Obwohl er letzte Nacht einige hundert Kilometer zurückgelegt hatte, schien sein Kopf noch in New York zu sein.

Everybody, rock your body
Everybody, rock your body right
Backstreet's back, alright

tönte es in diesem Moment aus den Boxen des Sandwichladens. Liam zuckte zusammen und ein Großteil der weißen Masse aus der Tube klatschte neben ihm auf den Boden.

„Das will ich aber nicht auf meinem Sandwich", maulte der Kunde angewidert und Liam starrte ihn verdattert an.

*~*~*

„Okay, was war das für eine Aktion vorhin?", fragte Hailey, nachdem Mrs. Frazier das Atelier verlassen hatte. Marlon seufzte und hängte das Herrenhemd, an dem er gerade arbeitete, zurück über den Kleiderbügel.
„Ich.. hm..", begann er und überlegte, wie er Hailey die Geschichte mit Liam erzählen sollte, ohne dass sie dachte, er wäre einem billigen Trick aufgesessen und hätte sich ausnutzen lassen.

„Vielleicht hab ich da jemanden kennengelernt", brummte er und klappte seinen Laptop auf, um seine E-Mails zu checken.
„Jemanden", wiederholte Hailey und starrte ihn weiter an. „Und darum rennst du mitten am Tag auf die Straße?"
„Naja..", wand Marlon sich. „Er hat vielleicht vergessen, mir seine Nummer zu geben und ich meine, ich hätte ihn gesehen und wollte ihn danach fragen."

„Er hat vergessen, dir seine Nummer zu geben oder er wollte es nicht?", hakte Hailey nach.
„Er hat es vergessen," stellte Marlon klar. „Ganz bestimmt."
„Weil? Was habt ihr gemacht? Euch unterhalten?"
„Ja", erwiderte Marlon stolz.
„Und?"
„Was und?"
„Noch mehr?"
„Ja", gab er kleinlaut zurück.
„Euch geküsst?"
Marlon lächelte und nickte beschämt.

Hailey riss überrascht den Mund auf und stand von ihrem Platz auf.
„Du hast mit jemandem geknutscht, Marlon?"
Marlons Grinsen wurde breiter und er nickte wieder.
„Und? Wie war es?", fragte Hailey weiter, doch hob sofort ihre Hand. „Warte, so wie du grinst, muss er fantastisch geküsst haben."
Marlon seufzte und nickte abermals.
„Wann seht ihr euch wieder?"

Marlons Lächeln ließ etwas nach und er zuckte mit den Schultern.
„Weiß ich leider nicht," murmelte er.
„Wieso? Wie seid ihr denn verblieben?"
Ein weiteres Schulterzucken.
„Weiß ich nicht genau."
„Was war denn das Letzte, was er zu dir gesagt hat?", bohrte seine Kollegin weiter und Marlon runzelte grübelnd die Stirn.
„Ich glaube, es war ‚Oh Gott, es ist zu gut.'", sagte er schließlich und befürchtete, dass Haileys Augen gleich auf die Tastatur seines Laptops purzeln würden.

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