8 | That way you can trick the workings of a tired brain

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„Hast du alles?", fragte Hailey bestimmt schon zum achtundsiebzigsten Mal.
„Ja, Mama", grummelte Marlon und lachte.
„Das Ticket?", wollte sie wissen und Marlon riss entsetzt die Augen auf. Hailey zog den kleinen Plastikausweis an einem dunkelblauen Bändchen hinter ihrem Rücken hervor und grinste ihn an. „Ohne mich wärst du verloren."
„Ich fürchte auch", seufzte Marlon. „Vielleicht solltest doch lieber du fahren, Hailey."

„Nichts da", sagte sie. „Ich übernehme hier das Telefon und verarzte die ganzen Kunden, die du auf dieser Messe mit deinem Charme bezirzen willst, mein lieber Mr. Stewart. Du wirst fantastisch aussehen, die Leute werden sich um Aufträge bei dir reißen und du wirst riesigen Spaß haben."

„Deine Worte in Gottes Gehörgang", seufzte Marlon und umarmte seine Kollegin.
„Solange du heil ankommst", murmelte Hailey und schielte auf den schwarzen Kleinbus, der vor dem Atelier stand.
„Es ist ein Mietwagen, Hailey", meckerte Marlon.
„Er ist gigantisch! Du bist früher nur Mini gefahren und wie lange jetzt nicht mehr?"
„Er hat ein Automatikgetriebe und Auto ist Auto", maulte er. „Auf die Größe kommt es nicht an."
Hailey lachte und zwinkerte ihm zu.
„Erinnere dich daran, wenn dir auf der Messe ein 1,60m Zwerg schöne Augen macht."

Marlon schüttelte sich bei dem Gedanken an einen seiner langjährigen und treuesten Kunden. Mr. Shaw war sehr anspruchsvoll und sehr begeistert von Marlon, sowohl von deinen Fähigkeiten als Schneider als auch von seinem Äußeren. Mehr als einmal hatte Mr. Shaw Marlon bereits Avancen gemacht, die dieser immer höflich abgelehnt hatte, denn der kleine Mann mit dem ungepflegten Pferdeschwanz und der Halbglatze war ganz und gar nicht sein Typ. Jedoch hatte Mr. Shaw ihm in diesem Jahr einen Stand auf einer Messe für Mode und Schneiderei besorgt und Marlon konnte diese Chance, seinen Kundenkreis zu erweitern, unmöglich an sich vorbeiziehen lassen, selbst wenn das bedeutete, sich den Annäherungsversuchen von Mr. Shaw aussetzen zu müssen.

„Danke für den freundlichen Reminder", maulte Marlon und drückte Hailey einen Kuss auf die Stirn.
„Meldest du dich, wenn du angekommen bist?", fragte sie mütterlich und winkte ihm zu, als er den Kleinbus startete und die Adresse seines Hotels ins Navigationsgerät eingab.

*~*~*

Liam liebte seinen neuen Job. Er hatte ein eigenes sauberes Zimmer, die Besitzer der Farm, ein älteres Ehepaar, deren erwachsene Kinder in die Großstadt gezogen waren und keine Lust auf das Farmleben hatten, freuten sich sehr über seine Anwesenheit und er war jeden Tag an der frischen Luft. Der Haus- und Hofhund hatte sich vom ersten Tag an in ihn verliebt, schlief nun jede Nacht vor Liams Tür und wich ihm auch tagsüber nicht von der Seite.

Jeden Abend bekochte ihn Mrs. Livingston mit Freuden und Mr. Livingston freute sich, dass Liam sogar in der Lage war, die ein oder andere Partie Schach mit ihm zu spielen.
Tagsüber hatte Liam alle möglichen Aufgaben, die er nur zu gern übernahm. Sei es das Reparieren von Zäunen, das Melken der Kühe oder auch das Ausfahren von Gülle auf die Felder, er liebte es.

Nur abends, wenn er auf seinem weichen, sauberen Bett in seinem kleinen Personalzimmer lag, sah er an die Decke und dachte an funkelnde braune Augen mit goldenen Sprenkeln. Egal, wie schwer er tagsüber schuftete und todmüde auf sein Bett fiel, sobald er dort lag, kamen die Gedanken an den merkwürdigen Mann aus New York, dessen Namen er nicht einmal kannte, zurück.

Liam fragte sich, was er wohl beruflich machte, ob er immer so absurde Band T-Shirts trug, warum er Jeans färbte und ob er sich wohl fragte, was aus ihm geworden war. Vermutlich nicht, denn immerhin lebte er in New York, einer der schnelllebigsten Städte der Welt und auch, wenn der Mann nicht den Eindruck gemacht hatte, er würde öfter Klempner oder andere Männer, die er gerade erst kennengelernt hatte, nachts in sein Bett lassen, so würde er Liam nach seinem Abgang wahrscheinlich längst abgeschrieben haben.

Liam versuchte das auch. Den Mann abzuschreiben. Er hatte schon lange damit aufgehört, sich für eine Nacht einen wärmenden Körper zu suchen, um die Leere in sich zumindest für kurze Zeit zu füllen, doch mit dem Massenmördermann in der lilafarbenen Jogginghose war es anders gewesen. Er war schwach geworden und Schwäche konnte er sich nicht leisten. Besser, er würde ihn vergessen.

*~*~*

Natürlich war Stau auf dem Highway. Und natürlich leitete das Navigationsgerät Marlon durch die kleinsten Orte, die es in diesem Land geben konnte. Manche zeigten Ortseingangsschilder, ein Haus und dann sofort wieder ein Ortsausgangsschild. Wer konnte schon von sich behaupten, einen kompletten Ort für sich allein zu haben? Allerdings war man dann vermutlich auch Bürgermeister, Stadtratsvorsitzender und wer weiß, was noch alles, gleichzeitig. Dafür hielt sich das Getratsche im Rahmen.

Marlon schüttelte den Kopf über seine absurden Gedankengänge, doch er musste sich ablenken, denn zum einen war er hundemüde und zum anderen wollte er lieber über winzige Orte nachdenken, als über große Männer mit blauen Augen und chaotischen Haaren und-

Eine Kuh!
Marlon trat mit voller Wucht auf die Bremse und hielt etwa drei Meter vor einer braunen Kuh, die mitten auf der Landstraße stand und ihn anglotzte. Sie kaute gemächlich und Marlon schüttelte den Kopf. War er irgendwo versehentlich nach Indien abgebogen? Wo kam denn jetzt diese Kuh her?

Er drückte auf die Hupe und machte huschende Bewegungen mit den Armen, um das störende Tier zu vertreiben, doch dieses ließ sich von seinem Spektakel in keinster Weise aus der Ruhe bringen.
„Hau ab!", schrie Marlon und hupte erneut. Wie wurde man eine Kuh los, die sich nicht vom Fleck bewegen wollte? Er trat ein wenig aufs Gaspedal, um ihr zu signalisieren, dass er weiterfahren würde, doch die Kuh glotzte nur und blieb weiterhin an ihrem Platz.

Mist! Er konnte doch keine Kuh umfahren. Und umfahren im Sinne von, herum, war auch keine gute Idee, denn wenn die Kuh hier stehenblieb, würde jemand anderes vielleicht nicht so aufmerksam sein und dann würde er später in den Nachrichten von einem schrecklichen Unfall mit einer Kuh hören und sich selbst für immer Vorwürfe machen, dass er diesen nicht verhindert hatte.

Wieder hupte er und plötzlich kam ein großer, schwarzer Hund aus dem Gebüsch gesprungen und begann, die Kuh anzubellen. Träge setzte sich das große Huftier in Bewegung und ging langsam von der Straße. Jedoch stand nun der Hund an ihrer Stelle und war dazu übergegangen, Marlons Kleinbus anzukläffen. War er hier bei den Bremer Stadtmusikanten?

Wieder machte Marlon eine huschende Bewegung, doch der Hund bellte weiterhin und ging nicht weg. Waren Hunde nicht schlauer als Kühe? Erneut raschelte es im Gebüsch und Marlon rechnete bereits mit einem Huhn, das nun kommen würde, doch stattdessen war es ein großer Mann mit dunklen, wuscheligen Haaren.

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