„Möchtest du noch etwas Kaffee, Liam?", fragte Mrs. Livingston am Frühstückstisch. Mr. Livingston hatte seine Nase wie jeden Morgen hinter der Zeitung vergraben und Mrs. Livingston wuselte durch die Küche und verwöhnte die beiden Männer mit Rührei, Speck und allerlei anderen Köstlichkeiten. Liam befürchtete, dass er bald kugelrund würde, wenn das so weiterging.
„Danke, Mrs. Livingston", murmelte er höflich. Er war müde, denn die letzten Nächte hatte er nicht gut geschlafen. Es war vermutlich an der Zeit bald wieder aufzubrechen, er fühlte sich hier schon zu wohl.
„Ich fahre heute nach Baltimore, der Keilriemen für den Traktor ist da und kann abgeholt werden."„Das ist toll", freute sich Mrs. Livingston. „Könnte ich vielleicht mitkommen?"
Mr. Livingstons wettergegerbtes Gesicht erschien hinter der Zeitung und er hob eine Augenbraue. Mr. Livingston kommunizierte größtenteils über Gestik, er sprach nur selten.
„Äh, okay", antwortete Liam verblüfft. „Das wird nicht besonders spannend, aber-"
„Nein, du könntest mich aber am Grand Hotel absetzen", plauderte sie fröhlich weiter. „Dort findet eine Näh- und Schneiderei-Messe statt und ich wollte nach neuen Stoffen Ausschau halten."Ganz selbstverständlich nahm sie ihrem Mann die Zeitung aus den Händen, zog den Sportteil hervor, den sie ihm zurückgab und reichte Liam stattdessen eine Seite, auf der ein Artikel über besagte Messe abgedruckt war.
„Ich wollte da letztes Jahr schon hin", redete sie weiter. „Aber unsere Aushilfe vom letzten Jahr war eine Katastrophe und man konnte den Hof nicht für eine Sekunde allein lassen."Liam trank von seinem Kaffee und schielte nur halb interessiert auf den Artikel. Ein Bild stach ihm jedoch ins Auge und ließ ihn sich die Zunge an seinem noch brühheißen Getränk verbrennen. Der Mann mit den goldenen Sprenkelaugen war dort zu sehen. Neben ihm stand ein Zwerg mit einer Halbglatze und strahlte in die Kamera.
Eugene Shaw mit seinem Lieblingsschneider Marlon Stuart
stand unter dem Bild.
Marlon Stuart. Der Mann hatte einen Namen. Natürlich hatte er einen Namen, aber bis vor zwei Sekunden kannte Liam diesen nicht. Marlon.. ungewöhnlich, aber das passte zu ihm.
„Ist alles okay, Liam?", fragte Mrs. Livingston besorgt und wischte bereits mit einem Küchentuch die Kaffeeflecken weg, die Liam versehentlich auf dem Tisch verursacht hatte.
„Ja", murmelte er. „Hab mich nur verschluckt."*~*~*
Marlon hasste den dritten und vierten Tag der Messe. Es war voll, es war laut und er wusste bereits jetzt, dass er heute nicht viele Kunden hinzugewinnen würde. Die ersten beiden Tage waren standardgemäß nur für Fachbesucher und geladene Gäste. Alles potenzielle Kunden, die mehr als begeistert von seinen Ausstellungsstücken waren. Mehrfach durfte er an Ort und Stelle Aufträge ausfüllen, Menschen vermessen und bekam sogar schon das ein oder andere Stück zum Ändern gebracht.
Ab heute jedoch war die Messe für alle „Normalsterblichen" frei zugänglich, was in aller Regel Hausfrauen und Mamas bedeutete, die in ihrer Freizeit nähten und sich selbst für die besten Schneider hielten. Also stand er an seinem kleinen Stehtisch, lächelte freundlich und hielt unauffällig Ausschau nach Mr. Shaw, um rechtzeitig einen armen Messegast in ein belangloses Gespräch zu verwickeln, damit Eugene ihm nicht zu nahe kam.
„Marlon", ertönte auch schon dessen Stimme und Marlon zuckte nervös zusammen. Gestern Abend hatte er am Dinner für die Aussteller teilgenommen und natürlich hatte Mr. Shaw darauf bestanden, dass er an seinem Tisch saß. Als zwischen dem Hauptgang und dem Dessert plötzlich Mr. Shaws Hand auf seinem Oberschenkel lag, hatte er einen Migräneanfall vorgetäuscht und war auf sein Zimmer gegangen.
„Eugene", lächelte Marlon und hielt verzweifelt Ausschau nach Gästen, die er vielleicht hinzuziehen konnte.
„Wie geht es deinem Kopf?", fragte Eugene besorgt und versuchte, Marlons Wange zu berühren. Marlon trat einen Schritt zurück und die kleine Hand griff ins Leere.
„Besser, danke", presste er höflich hervor. „Bitte nicht.. die Haare", fügte er leise hinzu, denn Eugene schaute etwas verstimmt.Sofort erhellte sich dessen Gesicht und er nickte geheimnisvoll.
„Das verstehe ich", säuselte er. „Du siehst wieder atemberaubend aus. Ein wahrer Augenschmaus."
Marlon lachte unbeholfen und trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Er sah sich weiter um, irgendjemand musste doch-Liam.
Marlon meinte, eben zwischen den ganzen Menschen einen großen, dunkelhaarigen Mann gesehen zu haben. Oh Gott, er musste sich dringend in den Griff bekommen. Sicherlich hatte ihn dieser Vorfall vor drei Tagen um Längen zurückgeworfen, aber dass er jetzt schon unter Halluzinationen litt? Vielleicht sollte er doch mal einen Termin bei einem Therapeuten-
Doch, da war er. Ganz eindeutig. Die zerzausten Haare, eine abgetragene Jeans und ein fleckiges, dunkelblaues T-Shirt. Warum bei allen Orten auf dieser Welt, wo er hätte sein können, war er ausgerechnet hier?
Er trottete hinter einer älteren, etwas untersetzten Dame hinterher, die offenbar nach Stoffen suchte. Immer wieder hielt sie an Ständen verschiedener Aussteller an und stupste ihn in die Seite, wenn sie etwas sah, das ihr gefiel.Liam hingegen schien vollkommen abgelenkt zu sein. Er blickte sich regelrecht suchend um und Marlon beschlich das ungute Gefühl, dass er ihn suchte. Aber das konnte nicht sein, denn er war einfach abgehauen. Okay, und dann hatte Marlon ihm mitten auf der Straße eine Ohrfeige verpasst und war abgedampft. Was, wenn er sich rächen wollte? Oh Gott, er war gekommen, um es Marlon heimzuzahlen! Marlon konnte sich eine derartige Szene vor all diesen Menschen nicht erlauben.
„Marlon, ist alles in Ordnung?", fragte Eugene und musterte ihn besorgt. „Du bist ganz blass. Kommen die Kopfschmerzen zurück? Soll ich dir vielleicht den Nacken massieren? Das hilft bei Migräne, habe ich gehört."
„N-Nein, danke", stammelte Marlon und straffte seine Schultern. „Soll ich dir vielleicht ein paar Bilder des Anzugs zeigen, den ich kürzlich genäht habe, Eugene? Der würde deine Garderobe perfekt ergänzen!"Eugenes Augen begannen zu leuchten und sein Kopf nickte wild auf und ab. Marlon holte einen großen Ordner hervor, in dem er Bilder seiner Modelle einlaminiert hatte, um sie hier zu präsentieren. Er beschloss, dass eine ermüdende Unterhaltung das geringere Übel wäre und Liam es wohl kaum wagen würde, in eine bestehende Konversation zu platzen.
Liam sah sich zwischen all den Menschen um und fragte sich, wie man diese ganzen Stoffe und Muster auseinanderhalten konnte. Wenn es nach ihm ginge, gäbe es T-Shirts und Jeans. Alles andere war vollkommener Firlefanz und absolut unpraktisch, wie er fand. Mrs. Livingston war ganz aus dem Häuschen und beachtete ihn kaum, so dass er die Möglichkeit hatte, sich die einzelnen Aussteller näher anzusehen. Die meisten waren Frauen oder ältere, dickliche Männer und dann sah er ihn.
Marlon Stuart stand etwa sechs Stände weiter neben einem der Nebenausgänge und blätterte mit dem Halbglatzenzwerg in einem großen Ordner. Der Zwerg hatte seine kleine Hand auf den Unterarm von Marlon gelegt und Liam fragte sich, ob die beiden wohl ein Ding am Laufen hatten. Aus irgendeinem Grund störte ihn dieser Gedanke.
„Bin gleich wieder da, Mrs. Livingston", murmelte er seiner Chefin zu und schob sich langsam zwischen den Messegästen hindurch.
DU LIEST GERADE
Wechselreiz | ✓
Romance»𝐀𝐧𝐝 𝐜𝐨𝐦𝐞 𝐦𝐨𝐫𝐧𝐢𝐧𝐠, 𝐈 𝐚𝐦 𝐝𝐢𝐬𝐚𝐩𝐩𝐞𝐚𝐫𝐞𝐝, 𝐣𝐮𝐬𝐭 𝐚𝐧 𝐢𝐦𝐩𝐫𝐢𝐧𝐭 𝐨𝐧 𝐭𝐡𝐞 𝐛𝐞𝐝 𝐬𝐡𝐞𝐞𝐭𝐬.« Lange an ein und demselben Ort verweilen, umgeben von ein und denselben Menschen? Das ist nichts für Liam Carter. Er füh...