11 | Shame on me, I could be so much better than I am

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Liam stellte sich ganz beiläufig an den Stehtisch, an dem Marlon Stuart und der kleine Mann mit den wenigen Haaren auf dem Kopf standen und in einem Ordner blätterten. Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, dass Marlon bewusst nicht zu ihm aufschaute und wenn er bedachte, wie ihre letzte Begegnung auseinanderging, konnte er durchaus nachvollziehen, warum.

Der Zwerg hingegen hob seinen Kopf, musterte Liam von oben bis unten und stupste Marlon Stuart nun mit der Schulter an. Dieser jedoch schien sich zu weigern, Liam anzusehen und versuchte stattdessen hartnäckig, dem kleinen Glatzkopf etwas in dem Ordner zu zeigen.
„Ich denke, wir können das auch heute Abend weiter vertiefen, Marlon", säuselte der Gnom dem eleganten Mann zu und lächelte Liam entschuldigend an.

Liam biss unauffällig die Zähne aufeinander. Beim Gedanken, dass dieser eklige Winzling irgendetwas mit Marlon „vertiefen" wollte, kam ihm direkt sein Frühstück wieder hoch.

„Nein, das hier wollte ich noch-", widersprach Marlon, doch der kleine Mann zeigte deutlich auf Liam und sagte: „Du hast einen Kunden. Wir sehen uns später."
Damit verkrümelte er sich und ließ Marlon und Liam allein an dem Stehtisch zurück.

„Nun", murmelte Marlon schnippisch zu sich selbst und klappte den Ordner schwungvoll zu. „Ich kann nirgends einen Kunden sehen. Muss sich wohl ganz heimlich in Luft aufgelöst haben." Noch immer sah er Liam nicht an, sondern starrte verbissen auf die weiße Tischdecke, die über den Stehtisch gelegt war.

Liam räusperte sich und blickte dem kleinen Mann hinterher.
„Dein.. äh.. Freund?"
Nun hob Marlon doch seinen Kopf und Liam befürchtete, gleich eine weitere Ohrfeige zu kassieren, so wütend wie ihn die braunen Augen mit den goldenen Sprenkeln anfunkelten.
„Und wenn?", zischte er. „Geht es Sie etwas an? Sie müssen sich offenbar in der Location geirrt haben, denn hier gibt es weder Wasserfilter noch Schrubber. Vielleicht gehen Sie doch lieber in den Baumarkt gegenüber."

Liam konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. Er verstand, dass dieser Marlon wütend auf ihn war und ihm höchstwahrscheinlich direkt noch einmal eine verpassen würde, aber er war in seiner Wut auch irgendwie süß und dieses Funkeln in seinen Augen war definitiv heiß.
„Ich dachte, ich finde hier ein schönes Take That T-Shirt, das gut zu meiner grünen Radlerhose passt", grinste Liam Marlon frech an und beobachtete mit Freuden, wie dessen Augen sich entsetzt weiteten.

„Nun, das tut mir leid", knurrte Marlon. „Die Band gibt es nicht mehr. Einer von ihnen ist abgehauen, ohne was zu sagen."
Liam beugte sich langsam vor, stützte seine Ellbogen auf den Tisch und flüsterte: „Vielleicht will er zurückkommen?"
Er wusste nicht, warum er das sagte. Er wusste nur, dass er sich nicht von diesem Marlon fernhalten konnte.

Marlon biss sich verlegen auf die Unterlippe und wich Liams Blick aus. Eifrig fummelte er an seinem Ordner herum und brummte: „Mit grünen Radlerhosen wird ihn niemand zurücknehmen. Ich habe zu tun. Guten Tag."
Liam lachte leise und blickte sich um.
„Zu tun? Womit?"
„Das geht Sie-", zischte Marlon, doch in diesem Moment stieß die untersetzte Dame, die Liam offensichtlich begleitete, zu ihnen.

„Hier bist du, Liam", freute sie sich, ihren Schützling wiedergefunden zu haben.
„Hey Mrs. Livingston", lächelte Liam sie an. „Ich.. äh.. hab überlegt, dass ich mal einen Anzug bräuchte und da wollte ich eine fachmännische Meinung hören."
Marlon lächelte die ältere Dame freundlich an und reichte ihr die Hand.
„Marlon Stewart, freut mich, Sie kennenzulernen. Ich fürchte nur, ich bin etwas über Liams Level," säuselte er zuckersüß und Mrs. Livingston lachte unbeholfen.

„Nun, er kommt sonntags nie mit in die Kirche, weil er keinen Anzug hat", lachte sie und sah Liam von der Seite an. „Ich kann auch was zu dem Anzug beisteuern."
„Mrs. Livingston, ganz bestimmt nicht!", fiel Liam energisch ein. „Ich bin mir sicher, ihm durchaus gewachsen zu sein."
Marlon hob die Augenbrauen und schnaubte leicht, sagte jedoch nichts. Gerade wollte Mrs. Livingston etwas einwenden, als ein uraltes Mobiltelefon entsetzlich laut zu klingeln begann.

Die beiden Männer zuckten merklich zusammen, während die ältere Dame in ihrer Handtasche wühlte bis sie ein Handy zutage führte, das vermutlich zuletzt vor der Jahrtausendwende geladen worden war.
„Oh, das ist Doug", lächelte sie und beantwortete den Anruf. Auf einen verwunderten Blick von Marlon, sagte Liam beiläufig: „Ihr Mann."
Marlon nickte darauf verständnisvoll und machte sich dann daran, an seinem Kleiderständer, an dem verschiedene Beispiele zur Präsentation seiner Arbeiten hingen, herumzuzupfen.

Liam trat kurz hinter ihn und murmelte leise: „Können wir vielleicht doch nochmal in Ruhe-"
„Liam?", rief Mrs. Livingston genau in diesem Augenblick. „Können wir dann? Doug hätte gern Rippchen zum Abendessen, da muss ich aber bald anfangen."
„Klar, Mrs. Livingston", lächelte Liam sie an und wand sich wieder zu Marlon. „Kann ich.. äh.. dich vielleicht anrufen?"
Marlon blickte ihn ausdruckslos an und nickte nur knapp.
„Sicher," antwortete er trocken. „Ich stehe im Telefonbuch."

Abrupt wand er sich von Liam ab und ordnete energisch die Kleiderbügel neu, was Liam unmissverständlich zu verstehen gab, dass diese Unterhaltung wohl gerade beendet worden war.

*~*~*

„Und? Habt ihr schöne Keilriemen auf der Messe gefunden?", witzelte Mr. Livingston beim Abendessen, als er seine geliebten Rippchen vor sich hatte. Liam grinste schief und auch Mrs. Livingston lachte.
„Den Keilriemen hat Liam vorher schon geholt, ich habe ganz hübsche Stoffe auf der Messe gesehen, aber noch viel besser.."

Liam sah auf und ahnte, was jetzt kommen würde.
„... Liam hat mit einem netten Schneider gesprochen, weil er ja keinen Anzug hat."
Nun rollte Liam mit den Augen, denn genau das hatte er befürchtet.
„Mrs. Livingston", jammerte er. „Darum kümmere ich mich allein."
„Ach, papperlapapp", winkte sie ab. „Du tust schon so viel für uns. Ich möchte dir den Anzug gern schenken. Vielleicht kann er ihn ja schon früher fertigstellen, wenn er dich noch auf der Messe vermessen könnte."

Liam blickte sie an und nickte langsam. Die gute alte Dame hatte ihn auf eine Idee gebracht.
„Wo willst du denn jetzt hin?", fragte Mr. Livingston, als Liam vom Tisch aufstand und seinen nur zur Hälfte leergegessenen Teller abräumte.
„Zum Vermessen", log Liam. „Ich fahre nochmal hin und lasse mich gleich von ihm vermessen."
„Es ist nach acht", überlegte Mrs. Livingston mit einem Blick auf die Küchenuhr.
„Ach", winkte Liam ab. „Diese kreativen Köpfe schlafen doch ohnehin so gut wie nie."

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