Hatte vorhin noch die Kuh gestarrt, so war es nun Marlon, der starrte. Hier, mitten zwischen Keineahnung und Hierwilldochniemandfreiwilligleben, auf einer verlassenen Landstraße, auf der ihm in den letzten dreißig Minuten nichts anderes begegnet ist als eine verdammte Kuh, kletterte genau der Mann aus dem Gebüsch, der ihm seit über zwei Wochen nicht mehr aus dem Kopf ging.
Liam schien ihn gar nicht zu bemerken, gab dem kläffenden Hund mit einer leichten Kopfbewegung das Zeichen die Klappe zu halten und begann, die Straße zu überqueren, um der Kuh nachzulaufen.
Wütend drückte Marlon auf die Hupe. Nicht nur einmal kurz, nein. Er presste seine Hand so fest auf das Lenkrad, dass er befürchtete, gleich den Airbag auszulösen.Der große, dunkelhaarige Mann zuckte zusammen und starrte in das Auto. Was war denn jetzt das Problem des Fahrers? Er hatte sowohl die Kuh als auch den Hund doch von der Straße bekommen, er konnte doch-
Die Fahrertür öffnete sich und ein großer Mann in einem teuer aussehenden, dunkelblauen Anzug, mit aufwändig gestylten Haaren und dunkel umrandeten Augen stieg langsam aus und starrte ihn wütend an. Irgendwas an ihm kam Liam bekannt vor, doch er konnte nicht genau sagen, was, denn der Mann kam geradewegs auf ihn zugestapft und verpasste ihm eine Ohrfeige.
Entsetzt riss Liam die Augen auf und dann sah er sie. Die goldenen Sprenkel in den wütend funkelnden braunen Augen. Aber wie war das möglich? Der Mann war in New York, in seinen Band T-Shirts und absurden Polyesterjogginghosen und nicht mitten hier in Maryland.
„Arschloch", flüsterte Marlon und kämpfte gegen die wütenden Tränen an, die hinter seinen Augen drückten. Er drehte sich abrupt um und stieg zurück ins Auto.
„Hey!", rief Liam und lief ihm nach. „Warte!"
Marlon startete das Auto und starrte stur geradeaus, ein erster Tropfen fiel auf seinen Handrücken, als er aufs Gaspedal trat und die Straße entlang davonbrauste.Wie vom Donner gerührt stand Liam mitten auf der Straße und starrte dem schwarzen Kleinbus nach. Er konnte sich nicht erklären, wie es möglich war, dass der Mann, den er nicht vergessen konnte, dessen Namen er nicht einmal kannte, ihm mitten im Nirgendwo begegnet und ebenso schnell wieder verschwindet wie er aufgetaucht war.
Erst das Schlecken an seiner Hand holte Liam zurück in die Gegenwart. Neben ihm stand Ella, die braune Kuh, die ausschlaggebend für diese zweite schicksalhafte Begegnung gewesen war, und schlabberte an seinen Fingern herum. Seufzend streichelte Liam ihre weiche Stirn und murmelte: „Das hab ich wohl verdient."
*~*~*
Schniefend hielt Marlon den Kleinbus vor dem Hotel, in dem zugleich auch die Messe, die er besuchen würde, stattfand. Mürrisch wischte er sich mit dem Handrücken über die Wangen und stellte fest, dass er den Großteil seines Eyeliners mit abgewischt hatte. Verdammter Liam!
Marlon war auf einem guten Weg gewesen, ihn zu vergessen. Zumindest hatte er das Hailey glauben lassen, damit diese ihn nicht ständig mit diesem mitleidigen Marlon-wurde-sitzengelassen-Blick ansah. Abends jedoch, wenn er allein in seinem Bett lag..
Trotzig schniefte er noch einmal, klappte die Sonnenblende herunter und starrte sich selbst in dem kleinen Kosmetikspiegel an. Mit den Fingerspitzen verwischte er die verlaufenen Spuren unter seinen Augen so gut es ging und redete zu sich selbst: „Du bist Marlon Stewart! Du bist fantastisch und dir geht es wunderbar. Und jetzt hälst du den Kopf hoch und zeigst den Menschen, wie großartig du bist!"
Energisch klappte er die Sonnenblende zurück und stieg aus dem Wagen. Vor ihm stand bereits ein junger Page, der ihn mit großen Augen anstarrte. „Einmal parken bitte", wies Marlon ihn mit erhobenem Kinn an. „Das Gepäck hole ich später selbst. Danke."
Ohne die Antwort des verdutzten Hotelangestellten abzuwarten, marschierte Marlon schnurstracks durch die gläserne Drehtür ins Hotelinnere.*~*~*
„Wen haben wir denn da?", fragte eine schnarrende Stimme hinter Marlon und dieser musste dem Drang widerstehen, mit den Augen zu rollen. Stattdessen setzte er sein strahlendstes Lächeln auf und drehte sich schwungvoll um, sein geschmackvoll dekorierter Messestand jetzt in seinem Rücken.
„Mr. Shaw", rief er überschwänglich. „Ich habe mich schon gefragt, wo Sie bleiben."„Das Beste kommt immer zum Schluss", kicherte der kleine Mann und zog Marlon ohne Vorwarnung an sich. Er ging ihm bis knapp unter die Schulter, doch das hielt ihn nicht davon ab, seine kleinen Ärmchen um Marlons Taille zu legen und ihn fest an sich zu drücken.
„Sie sehen fantastisch aus, Marlon", schmachtete er ihn an und Marlon lächelte verlegen.„Danke, Mr. Shaw", erwiderte er höflich und versuchte unauffällig, sich von seinem Fan zu lösen.
„Ach, bitte", säuselte Mr. Shaw. „Für Sie bin ich Eugene. Ich möchte Ihnen ein paar Leute vorstellen."Elegant drehte er sich zu einer Gruppe Menschen mit Diktiergeräten und Kameras und begann sogleich, Marlon vorzustellen: „Meine Herrschaften, ich stelle Ihnen nun das Goldstück unserer Messe vor. Mein persönlicher Lieblingsschneider direkt aus New York City, Marlon Stewart."
Mit diesen Worten zog er Marlon erneut an sich und die Kameras klickten sofort eifrig los. Marlon lächelte gequält und legte vorsichtig einen Arm um Eugene Shaw, während dieser fröhlich weiter von ihm schwärmte.
Immerhin war es gute Werbung für ihn und so konnte er zumindest darauf hoffen, in den kommenden Wochen mehr als genügend neue Aufträge zu bekommen.
*~*~*
Mürrisch stapfte Liam über das Feld und zog die störrische Ella an einem Seil, das er mitgenommen hatte, hinter sich her. Eigentlich müsste er der lieben Kuh dankbar sein, dass sie heute Morgen ausgebüxt war und ihre Pause mitten auf der Landstraße eingelegt hatte, über die ausgerechnet der Mann mit den goldenen Sprenkeln in den Augen fahren würde. Anderenfalls wäre Liam ihm nicht noch einmal begegnet.
Aber wäre das nicht vielleicht sogar besser für ihn gewesen? Gott, er hatte fantastisch ausgesehen in seinem Anzug und mit den gestylten Haaren und die Wut und Enttäuschung in seinem Gesicht hatten ihn noch atemberaubender werden lassen.
Bloß nun war die Erinnerung an ihn so frisch, dass Liam verzweifelt die Augen zusammenkniff, um sie wieder in sein Unterbewusstsein zu verdrängen. Doch alles, was er sah, waren Bilder ihrer gemeinsamen Nacht, Bilder von diesem Mann, wie er schlafend in Liams Armen lag..
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Romance»𝐀𝐧𝐝 𝐜𝐨𝐦𝐞 𝐦𝐨𝐫𝐧𝐢𝐧𝐠, 𝐈 𝐚𝐦 𝐝𝐢𝐬𝐚𝐩𝐩𝐞𝐚𝐫𝐞𝐝, 𝐣𝐮𝐬𝐭 𝐚𝐧 𝐢𝐦𝐩𝐫𝐢𝐧𝐭 𝐨𝐧 𝐭𝐡𝐞 𝐛𝐞𝐝 𝐬𝐡𝐞𝐞𝐭𝐬.« Lange an ein und demselben Ort verweilen, umgeben von ein und denselben Menschen? Das ist nichts für Liam Carter. Er füh...