19 | Prays for hope to whisper in the wind

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„Marlon", flüsterte Liam und traute seinen Augen kaum. Der Mann, den er seit Wochen versuchte, irgendwie über das Internet ausfindig zu machen, stand in einen weißen Hotelbademantel vor dem Tresen im Wellnessbereich, hatte soeben ein Glas fallen lassen und starrte ihn an. Ehe Liam mehr sagen konnte, war Marlon mit panisch aufgerissenen Augen wie ein Wahnsinniger durch die Tür nach draußen gerauscht.

„Was war das denn gerade?", kicherte Sally unbeholfen und Liam stürzte hinter Marlon nach draußen. Auf dem Gang erblickte er gerade noch einen Zipfel des weißen Bademantels, der um die Ecke bog, als Sally ihm nachrief: „Und wer macht das jetzt hier weg?"
Liam knirschte mit den Zähnen und ging langsam zurück in den Wellnessbereich.

Wenn Marlon hier gerade eine Behandlung hatte, musste das bedeuten, dass er Gast in diesem Hotel war. Liam war zwar nur für die Reinigung der öffentlichen Bereiche zuständig, aber er würde eine Möglichkeit finden, mehr herauszufinden.
„Sorry, Sally", lächelte er sein charmantestes Lächeln und begann, die Scherben von Marlons zerstörtem Glas aufzusammeln.

„Sag mal, Sally", fragte Liam ganz beiläufig. „Ist der Gast öfter hier?"
„Mr. Stewart?", fragte sie geistesabwesend zurück, während sie im Terminkalender herumklickte. „Ja, der ist immer bei Marco. Sorry wegen dem Glas, er hätte sich ja wenigstens entschuldigen können."
„Vielleicht hat er sich nur erschreckt", überlegte Liam laut. „Soll ich ihm vielleicht ein neues Glas auf sein Zimmer bringen?"
Sally rollte mit den Augen.
„Ich mach das schon", seufzte sie. „Ich hab schon seinen Tomatensaft versaut."
„Ich kann das ruhig übernehmen", bot Liam überschwänglich an. „Kein Problem."

Sally winkte ab und bereitete eine weitere Limonade vor.
„Besser, ich mache das", bestand sie darauf. „Aber danke für das Angebot."
Liam blickte ihr verzweifelt nach, als sie den Wellnessbereich mit der neuen Limonade verließ. Mist! Das wäre die Gelegenheit gewesen, herauszufinden, in welchem Zimmer Marlon wohnte.

Er stand mit den restlichen Scherben auf, warf sie schnell in seinen Eimer zu den anderen und schlich um den Tresen herum. Das Hotelprogramm war noch auf dem Bildschirm geöffnet und Liam klickte verzweifelt darin herum. In das Suchfeld gab er den Namen ‚Stuart' ein, doch erhielt keine Treffer. Hatte Marlon unter einem anderen Namen eingecheckt? Er öffnete die Liste aller Gäste, die sich im Haus befanden und da sah er ihn:

Marlon Stewart, Zimmer 169, Abreise in fünf Tagen.

Fünf Tage, okay. In dieser Zeit würde Liam es irgendwie schaffen, ihm zu begegnen. Wie dumm von ihm, nicht einmal nach Abwandlungen des Namens zu suchen. Er hatte ja nicht ahnen können, dass sein Name in der Zeitung damals falsch geschrieben worden war.
Jetzt brauchte er nur noch einen Plan.

*~*~*

Marlon saß in seinem weißen Bademantel am Strand unterhalb seines Zimmers und versuchte, seine Atmung und seinen Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen. Von allen Orten auf dieser Welt.. ach, diesen Gedanken hatte er vor Monaten schon einmal. Das Universum musste ihn wirklich hassen oder ihn als eine Art lustiges Experiment sehen, dass es ihm allen Ernstes zwei solcher zufälligen Begegnungen bescherte.

Was zur Hölle tat Liam hier? Offensichtlich arbeiten, beantwortete Marlon sich die Frage in seinem Kopf, jedoch musste er nun eine Möglichkeit finden, von hier zu verschwinden. Ein weiteres Aufeinandertreffen könnte er nicht ertragen.

Der Wind hatte zugenommen und es begann langsam zu tröpfeln. Marlon hatte Angst, in sein Zimmer zurückzugehen, denn wenn Liam ihn finden wollte, was er nicht glaubte, wäre es ein Leichtes für ihn, seine Zimmernummer herauszufinden.

Wenn er ihn finden wollte. Marlon lachte tonlos auf über die Absurdität seiner Gedanken. Wohl kaum. Hätte er ihn finden wollen, wäre das längst geschehen. Viel wahrscheinlicher war es, dass Liam schon seine Kündigung schrieb und im nächsten Bus nach Ganz weit weg von Marlon saß. Ohne Rückfahrkarte.

Marlon schloss die Augen und atmete tief durch. Kein Grund, sich verrückt zu machen. Liam würde verschwinden, ihm aus dem Weg gehen und Marlon könnte seinen Urlaub hier zu Ende verbringen. Zwar war es jetzt mit der Entspannung vorbei, aber er war nicht derjenige, der gehen würde. Das würde dieser verdammte Mann mit dem hübschen Gesicht schon übernehmen. Schon wieder.

Entschlossen stand er auf und stapfte zurück zum Hotel, sein Bademantel nun schon leicht vom Nieselregen durchfeuchtet. Als er an seinem Zimmer ankam, stand ein Glas Limonade auf einem kleinen Tablett vor seiner Tür. Marlon starrte auf das Glas und schluckte schwer gegen den Kloß in seiner Kehle. Vielleicht wäre es doch besser, er verschwände von hier.

*~*~*

Eine halbe Stunde später stand Marlon wieder am Strand und starrte auf die hohen Wellen. Der Wind rüttelte an seinen Haaren und der Regen peitschte in sein Gesicht. Es war ihm egal, dass er nass wurde. So konnte er zumindest nicht unterscheiden, was Regen und was Tränen waren. Und er weigerte sich zu weinen. So waren die Tropfen nur vom Regen.

Die junge Rezeptionistin hatte ihm freundlich, aber bestimmt erklärt, dass er bei sofortiger Abreise kein Geld zurückbekommen würde. Das hätte ihm unter normalen Umständen herzlich wenig ausgemacht, aber Hailey hatte den Urlaub gebucht und bezahlt und auch, wenn er ihr die vollen Kosten zurückzahlen würde, würde sie dennoch eine Information über die Stornierung erhalten und dann hätte Marlon keine Mitarbeiterin mehr. Er war hier praktisch gefangen.

„Okay", redete Marlon sich selbst gut zu. Er sprach laut, denn er war allein am Strand und der Wind toste so laut, dass ihn ohnehin niemand hören konnte. „Ich bin ein erwachsener Mann, ich nehme die Situation wie ein erwachsener Mann. Das Hotel ist groß, es wird mir wohl nicht schwerfallen, einer Putzhilfe aus dem Weg zu gehen. Und wenn ich ihn doch sehe, wird er ein Angestellter ohne Gesicht sein wie alle anderen. Kein Grund, in Panik zu verfallen, Marlon. Reiß dich einfach zusammen, verdammt!"

Er schloss die Augen, atmete tief durch und beschloss, die Lage so hinzunehmen wie sie nun einmal war. Es waren nur noch fünf Tage und sein Zimmer war schön genug, diese fünf Tage ausschließlich darin zu verbringen. Er öffnete die Augen, starrte auf die Wellen und nahm plötzlich eine Bewegung neben sich wahr...

Wechselreiz | ✓Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt