Teil 11

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In dieser Nacht träumte Ava von Italien. Obwohl sie in den USA geboren war, fühlte sie seit jeher eine tiefere Verbindung zu dem Geburtsland ihrer Mutter. In ihrem Traum lief sie barfuß über die filigran verzierten Fliesen in dem Haus ihrer Großeltern; die Mittagssonne schien durch die hellen Vorhänge und hatte den Boden an manchen Stellen ein wenig aufgewärmt. Sie war gerade auf dem Weg in die Küche, aus der es herrlich nach frischen Cannoli con Ricotta duftete, als es an der Tür klingelte. Doch das irritierte sie. Jeder in dem kleinen sizilianischen Dorf wusste, dass die Klingel des Hauses der Familie Di Gennaro seit Jahrzehnten defekt war und sich niemand darum scherte sie zu reparieren. Der unerwartete Besucher klingelte erneut, jedoch dämmerte es Ava langsam, aber sicher, dass sich hier gerade Traum und Realität vermischt hatten. 

Die Fliesen verschwammen nach und nach und Ava schlug verschlafen ihre Augen auf. Nur der Geruch nach ihrem Lieblingsdessert hing ihr noch in der Nase. Ein Blick auf die Uhr verriet ihr, dass es kurz nach neun war und sie somit gerade einmal vier Stunden geschlafen hatte. Murrend setzte sie sich auf und versuchte sich zu erinnern, was gestern alles geschehen war und warum jemand so früh bei ihr geklingelt haben könnte, denn sie erwartete in der Tat niemanden. Durch den wenigen Schlaf fiel ihr das Denken äußerst schwer und es dauerte fast ein bisschen zu lange, bis sie wieder wusste, dass Chris unten auf der Couch schlief. Es klingelte ein drittes Mal. „Jaja ich hab's gehört, ich bin gleich da, verdammt noch mal", rief sie halb laut in den Raum. Wenn es eine Sache gab, mit der ihr Körper und ihre Laune nicht umzugehen wussten, dann war das zu wenig Schlaf. Sie hasste frühes Aufstehen und war der Inbegriff eines Morgenmuffels. Nach wie vor schlaftrunken tapste sie die Treppe hinunter, drückte auf den Knopf für die Gegensprechanlage und brachte ein gegähntes „Hallo?" hervor. „Guten Morgen Ms. Di Gennaro", erklang die Antwort. Allerdings nicht aus dem Lautsprecher, sondern von der anderen Seite der Wohnungstür. Es dauerte einen Moment, bis Ava die Stimme erkannte und um wirklich sicher zu sein, warf sie einen Blick durch den Türspion: dort vor ihrer Tür stand Mrs. Anderson, die ältere Dame, die neben Ava im siebten Stock wohnte. Für sie ging Ava gelegentlich einkaufen und ihr brachte sie meistens etwas aus der deutschen Bäckerei mit, für die sie manchmal ans andere Ende der Stadt fuhr. Bevor Ava die Tür öffnete, drehte sie sich zu Chris um, der noch auf der Couch lag und sich gerade gähnend die Decke über den Kopf zog. Sie wandte sich wieder der Tür zu und öffnete sie. „Hallo Mrs. Anderson, wie kann ich Ihnen helfen?" Die kleine rundliche Frau war, wie jedes Mal, wenn Ava sie sah, auch jetzt schick gekleidet, dezent geschminkt und ihre grauen Haare, die von ein paar einzelnen weißen Strähnen durchzogen waren, sahen aus, wie frisch vom Friseur. Eigentlich ein rundum ausgeglichener Anblick, nur der besorgte Ausdruck in ihren Augen passt nicht ganz dazu. „Entschuldigen Sie, dass ich Sie so früh störe Ms. Di Gennaro, aber ich wollte nur fragen, ob Sie genügend zu essen haben und ob Sie heute aus irgendeinem wichtigen Grund ihre Wohnung verlassen müssten?"

Diese Frage irritierte Ava. Wurde sie gerade indirekt gefragt, ob sie für Mrs. Anderson einkaufen gehen konnte? Die alte Dame war doch sonst nicht so schüchtern. „Ich denke ich habe noch genug Essen. Zwar nicht so viele frische Dinge, weil ich die nächsten Tage nicht in der Stadt sein werde, aber ein bisschen was habe ich noch hier. Brauchen Sie etwas, soll ich für Sie einkaufen gehen?", fragte Ava also.

„Nein, vielen Dank. Aber deswegen bin ich hier. Sie könnten nämlich gar nicht einkaufen gehen, selbst wenn Sie wollten. Wir sind eingeschneit und niemand kann das Haus verlassen..." Ihre Lippen bewegten sich weiter, doch Ava hörte sie nicht mehr sprechen. Womöglich lag es an der Müdigkeit, aber sie war noch viel zu sehr damit beschäftigt, den letzten Satz zu verstehen, als dass sie hätte aufpassen können, was Mrs. Anderson weiterhin sagte. Niemand konnte das Haus verlassen?

Avas Gedanken waren in ihrem Zustand viel zu langsam, weshalb sie nachhakte, um sicher zu gehen, dass sie ihre Nachbarin gerade richtig verstanden hatte: „Entschuldigen Sie bitte, dass ich Sie unterbreche, aber sagten Sie gerade, wir sind eingeschneit?!" Mrs. Anderson nickte und wartete auf eine weitere Reaktion, doch Ava stand ihr nur sprachlos gegenüber und starrte sie ungläubig an. Also erzählte die alte Dame, was geschehen war.

Die letzten Stunden hatte es an der gesamten Ostküste so viel geschneit, wie seit dem Beginn der Wetteraufzeichnungen nicht und die ganze Situation hatte sich durch den starken Sturm zusätzlich verschlimmert. Vielerorts waren die Menschen eingeschneit, manche sogar vom Stromnetz abgeschnitten und der öffentliche Verkehr war vollständig zum Erliegen gekommen. Derzeit gab es kaum eine Möglichkeit, den Schneemassen Herr zu werden und die Stadt New York hatte seine Einwohner gebeten, sich in erster Linie nur in medizinischen Notfällen an sie zu wenden, da die Unterstützung dieser Menschen oberste Priorität hatte.

„Verzeihen Sie mir, dass ich Sie geweckt habe, aber ich wollte sicher gehen, dass es Ihnen gut geht", schloss Mrs. Anderson ihre Erzählung. Ava dankte ihr und versicherte ihr erneut, dass sie genügend Lebensmittel zu Hause hatte und nachdem die beiden Frauen sich verabschiedet hatten, schloss Ava leise die Wohnungstür. Als sie sich umdrehte, sah sie, dass Chris sich mittlerweile aufgesetzt hatte. Seine Haare standen ihm wirr von Kopf ab und er sah genau so müde aus, wie Ava sich fühlte. „Hast du das gerade mitbekommen?", fragte sie ihn und er antwortete mit einem Nicken. Wortlos ging Ava zu ihm und setzte sich in den großen Sessel neben der Couch. Diese ganze Situation überforderte sie, aber ihr war auch bewusst, dass sie noch immer viel zu müde war, um das gesamte Ausmaß der Lage zu verstehen. 

Nachdem Ava den Fernseher angeschaltete hatte, verfolgten sie eine Weile die Nachrichten. Die Aufnahmen waren zugleich beeindruckend und beängstigend. Erst als Bilder aus Massachusetts gezeigt wurden, schien Chris wieder einzufallen, dass er an diesem Morgen eigentlich zu seiner Familie geflogen wäre. „Ich rufe mal eben meine Mutter an und frage, ob es allen gut geht." Als er aufstand und sich ein Stück entfernte, um in Ruhe telefonieren zu können, erhaschte Ava einen kurzen Blick auf sein besorgtes Gesicht. Um ihm nicht das Gefühl zu geben, ihm beim Telefonieren zuzuhören, fokussierte sich Ava auf ihr eigenes Handy und schrieb ihrem Bruder in einer kurzen Nachricht, dass es ihr gut ging und sie ihn später anrufen würde. Anschließend galt ihre Aufmerksamkeit wieder den Nachrichten, aber sie spürte, wie die Müdigkeit sie langsam zu übermannen drohte. Einen Moment kämpfte sie noch dagegen an, bis sie schließlich nachgab und einschlief. 

You would smile and that would be enough (Chris Evans ff)Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt