Kapitel 2

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13. April 2021

Die Tür öffnet sich und ein Mann tritt ein. Er trägt keinen Arztkittel, vermutlich wieder jemand den ich eigentlich kennen sollte. Bereits heute Morgen waren Jascha und Jürgen da. Es ist ein sehr befremdliches Gefühl mit Leuten in einem Raum zu sitzen, die man nicht kennt. Besonders wenn diese behaupten zu der eigenen Familie zu gehören.

"Hallo Josi. Julian hat erzählt, dass du dich an nichts erinnern kannst. Ich bin Jannis, dein Bruder. Ich bin ungefähr ein Jahr jünger als du, also das dritte Kind unserer Eltern. Darf ich zu dir rüber kommen?", stellt er sich vor und schaut mich fragend an, nachdem er die Tür geschlossen hat.

Langsam nicke ich, was tatsächlich schon etwas besser funktioniert. Ich weiß nicht wieso aber es beruhigt mich, dass er sich relativ ausführlich vorgestellt hat. In dem Moment, in dem er diesen Raum betreten hat, hat er bereits angefangen mich zu beruhigen.

Jannis kommt zu mir herüber, setzt sich auf den Stuhl neben meinem Bett und lächelt mich sanft an.

"Wir alle sind so froh, dass du aufgewacht bist", lächelt er mich an und ich sehe wie seine Augen auf meine Hand fallen. Er will sie in seine nehmen, aber er möchte mich nicht überfordern. Ich bin ihm dankbar, dass er es nicht tut, weil ich es ehrlich gesagt nicht möchte.

"Soll ich dir irgendetwas erzählen? Du hast bestimmt viele Fragen", bietet er an und eine seiner Augenbrauen hebt sich leicht. Doch ich verneine die Frage. Heute Morgen habe ich es mit Jascha und Jürgen probiert aber ziemlich schnell furchtbare Kopfschmerzen bekommen und abgebrochen. Noch ist es einfach zu viel und mein Gehirn kann das alles gar nicht verarbeiten.

Jedoch weiß ich, dass bisher nur die Familie informiert wurde. Sie haben extra niemand anderem Bescheid gesagt, um mich nicht zu überfordern und das hat mich sehr erleichtert. So werden es vermutlich weniger Besucher sein. Falls ich überhaupt Freunde habe, keine Ahnung. Ich hoffe einfach ich bin ein sozialer Mensch und hab nicht bloß für mich alleine gelebt.

"Ich kann mir nicht einmal ansatzweise vorstellen wie du dich fühlst aber du sollst wissen, dass wir alle für dich da sind. Die Ärzte meinen, dass es durchaus möglich ist dein Gedächtnis wieder zu erlangen. Es wird wahrscheinlich etwas dauern aber vielleicht kannst du dich irgendwann ja wieder an alles erinnern", lächelt er aufmunternd und bisher fühle ich mich tatsächlich am meisten zu Jannis verbunden.

Er scheint eine sehr ruhige Natur zu haben. Auf mich hat er eine beruhigende Wirkung und er wählt seine Worte ziemlich gut. Ich habe nicht das Gefühl, dass er mich irgendwie drängt oder unbedingt mit mir über das was passiert ist reden will. Er gibt mir Zeit, Zeit die ich brauche. Anders als Jascha und unsere Eltern.

"Wie bist du hier hergekommen?", frage ich um irgendwie ein kleines Gespräch aufzubauen. Meine Stimme ist schon etwas fester geworden und ich habe mich an sie gewöhnt.

"Mit dem Auto. Es steht unten auf dem Parkplatz", beantwortet er meine Frage und kurz nicke ich wissend "Hast du da schonmal reingeschaut?"

Fragend deutet er auf eine Art Schale, in der sich einige Sachen befinden. Sachen, die ich scheinbar an dem Tag des Unfalls bei mir hatte.

"Nein, ich weiß nicht ob ich das will. Jedesmal wenn ich mich versuche zu erinnern bekomme ich so starke Kopfschmerzen", erkläre ich und etwas mitleidig schaut mein Bruder mich an. Mitleid, das ist der Ausdruck den ich jedesmal sehe wenn jemand diesen Raum betritt und um ehrlich zu sein hasse ich es.

"Soll ich schauen ob ich irgendetwas neutrales darin finde? Dein Handy, zum Beispiel, würde zu sehr an die Vergangenheit und an deine Person erinnern. Aber so wie ich dich kenne hattest du noch einige andere Sachen dabei, die jetzt vielleicht sogar nützlich sein könnten", schlägt er vor und nach kurzem Zögern nicke ich.

Ich kann mich nicht ewig vor der Vergangenheit verschließen beziehungsweise vor den Kopfschmerzen. Aushalten wäre die beste Option. Irgendwann werden die Kopfschmerzen schon aufhören.

Jannis steht auf, geht zu der Schale herüber und dreht mir extra den Rücken zu. Ich bin irgendwie dankbar. So sehe ich weniger von dem was dort liegt. Als er sich wieder zu mir umdreht hält er zwei Sachen in der Hand.

"Hier, du warst immer etwas verrückt nach Lippenpflege. Der tut dir jetzt bestimmt gut", lächelt er und hält mir einen kleinen blauen Gegenstand entgegen. Labello. Schwach hebe ich meine Hand und obwohl der Gegenstand so klein ist habe ich das Gefühl einen schweren Stein zu heben. Ich gebe mir die größte Mühe, doch ich kann meinen Mund nicht erreichen.

"Warte, ich helfe dir. Ist das okay?", erkundigt sich Jannis, bestätigend nicke ich und lasse meine Hand wieder sinken. Es ist sehr anstrengend.

Jannis nimmt den Labello und trägt ihn vorsichtig auf meine Lippen auf. Es ist ein angenehmes Gefühl, irgendwie vertraut. Scheinbar habe ich es früher wirklich ziemlich oft gemacht. Mein Bruder setzt sich wieder zurück auf den Stuhl und schaut auf etwas in seinen Händen. Aber ich sehe nicht was es ist.

"Was hast du da?", frage ich neugierig und versuche mich etwas aufzusetzen, scheitere jedoch daran und bleibe unverändert im Bett liegen.

Jannis schaut auf. Seine Augen treffen auf meine und er wirkt plötzlich traurig. Trauriger als zuvor. Verwundert ziehen sich meine Augenbrauen zusammen und ich warte auf eine Antwort.

"Ich denke nicht, dass es wirklich so neutral ist. Aber das hier hast du von mir", murmelt er und hält einen kleinen Gegenstand hoch. Vermutlich ein Anhänger, ich weiß nicht so genau "Das ist ein Schlüsselanhänger, du hattest ihn an deinem Autoschlüssel. Ich habe ihn dir aus meinem ersten Urlaub alleine mitgebracht"

"Wo warst du da?"

"Bloß in Italien, mit ein paar Freunden. Du hast darauf bestanden, dass ich dir etwas mitbringe", lächelt er. Ich drehe meine Hand, sodass meine Handinnenfläche nach oben zeigt und öffne sie. Jannis versteht das Signal und legt den Schlüsselanhänger hinein.

Mit meinem Daumen streiche ich darüber und schaue es an. Es ruft keine Wirkung hervor. Weder Kopfschmerzen noch irgend eine Erinnerung. Als hätte ich es noch nie in meinem Leben gesehen. Es sieht etwas mitgenommen aus, kein Wunder nach einem Autounfall. Aber wider rum sehr gut für die Umstände.

"Klingt als wären wir uns sehr nah gewesen. Mit wem habe ich mich am Besten verstanden?", frage ich und schaue wieder zu ihm auf, während sich meine Finger um den Anhänger schließen.

"Du meinst unter uns Geschwistern?", hakt er nach und bestätigend nicke ich "Wir haben alle ein gutes Verhältnis zueinander, obwohl es nach deinem Unfall etwas schwer war. Mit Jascha hast du dich immer mit am besten verstanden. Wir zwei hatten oft Meinungsverschiedenheiten. Alle sagen immer, dass würde am Alter liegen. Weil wir uns so nah sind"

Ein kleines Schmunzeln erscheint auf seinen Lippen. Als würde er sich an vergangene Zeiten erinnern.

"Ich mag dich bisher am liebsten", spreche ich meinen Gedanken aus und überrascht schaut er mich an. Es ist wahr, von meinen Brüdern mag ich ihn bisher am liebsten und Jannis ist die erste Person bei der ich mich wohl fühle. Ich fühle mich von ihm nicht unter Druck gesetzt, er akzeptiert die Situation so wie sie ist.

"Weißt du wie es jetzt weiter geht?", fragt er sanft und schenkt mir ein aufbauendes Lächeln.

"Physio. Mein Körper und meine Muskeln müssen wieder aufgebaut werden", erkläre ich. Sonderlich viel weiß ich auch nicht. Bisher war die Physiologin schon ein paar Mal da. Sie hat meine Beine bewegt, meine Arme und meinen Körper im Generellen. Selbst konnte ich mich aber bisher noch nicht so aktiv daran beteiligen.

Langsam werden wir uns an alles rantasten. Ich muss neu laufen lernen und alles. Meine Hoffnung ist, dass es schnell geht. Schneller als die Ärzte denken.


Euch einen wunderschönen Ostermontag, genießt das schöne Wetter und tankt etwas Sonne :)

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Amnesia // Kai Havertz FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt