1. Kapitel

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Es ist der erste Schultag nach den Sommerferien, ich bin so aufgeregt, dass ich schon lange vor dem Wecker wach werde. Wie eine Irre eile ich mit meinen Klamotten, unterm Arm ins Badezimmer, bevor Marlon das Bad an sich reißen kann.

Marlon ist zwar mein kleiner Bruder, aber seitdem er auf dem Emo-Trip ist, braucht er so viel länger braucht als ich, dass ich mich beeilen muss, vor ihm im Bad zu sein. Seine blonden Haare hat er wachsen lassen und sie schwarz gefärbt. Sie sind inzwischen so lang, dass sie seine Augen verdecken.

Unter der warmen Dusche höre ich ihn gegen die Tür poltern. „Toni! Man, mach mal schneller. Ich muss auch noch duschen!" Da ich weiß, dass wir noch mehr als genug Zeit haben, lasse ich das Wasser ein paar Minuten länger als nötig auf mich einprasseln, bevor ich aus der Dusche steige und das Bad für ihn frei mache.

„Vielen Dank auch, jetzt komme ich zu spät. Wegen DIR!", blufft Marlon genervt und strafft mich mit seinem bösen Blick, den er seitdem er fünf Jahre alt ist, perfektioniert hat.

„Wenn ich es schaffe meine langen Haare zu föhnen und zu glätten, bevor die Uhr 7 schlägt, hast du noch mehr als ausreichend genug Zeit, dir deine drei blonden Brusthaare zu rasieren", ziehe ich ihn auf und lasse ihn einfach im Flur stehen und laufe mit meinen Schlafklamotten zurück in mein Zimmer.

Ich bin gerade fertig geworden mit dem Glätten meiner Haare, die mir über die Brust ragen, als meine Zimmertür aufgeht und meine Mutter den Kopf reinsteckt. „Toni, bist du so weit? Frühstück ist fertig." „Ja, ich komme gleich", erwidere ich und streife mein Kleid an den Beinen straff.

„Marlon los jetzt, sonst kommen wir wirklich zu spät, wenn du dich nicht langsam beeilst", rufe ich von meinem Auto aus und trommle nervös auf dem Lenkrad herum, während er sich für eines seiner 50 Paar Schuhe entscheidet.

Endlich schließt er hinter sich die Tür und setzt sich neben mich, auf den Beifahrersitz. „Hättest du vorhin nicht so lange unter der Dusche gebraucht, dann hätte ich mehr Zeit gehabt, die richtigen Schuhe zu finden", pflichtet er mir bei und verschränkt demonstrativ die Arme vor der Brust. Ich rolle lediglich die Augen und starte den Motor meines Wagens.

Ich fahre auf den Parkplatz der Schule, noch bevor ich den Motor ausgeschaltet habe, hechtet Marlon auch schon aus dem Wagen. „Bis später, Toni", ruft er noch, bevor die Tür zurück ins Schloss fällt und ich mich nicht mal mehr verabschieden kann. Typisch Marlon, Hauptsache er schafft es noch pünktlich. Ein Blick auf mein Smartphone verrät mir, dass ich noch fast 20 Minuten bis zum Unterrichtsbeginn habe und räume in aller Ruhe meine Sachen zusammen, bis unerwartet an meiner Scheibe klopft und ich einen halben Herzinfarkt bekomme. Erschrocken drehe ich mich um und der Schreck ist vergessen, als ich in Brunos Gesicht entdecke, das mir freudestrahlend entgegenblickt. Schnell ziehe ich den Reißverschluss meiner Tasche zu und steige aus.

„Hey meine Schönheit", begrüßt mich Bruno und küsst mich so stürmisch auf den Mund, dass ich mit dem Rücken an meinem Auto halt suche und das kalte Metall sich durch mein dünnes Kleid bemerkbar macht. Gierig erwidere ich den Kuss und schlinge meine Arme um seinen Hals. Ich mag es sehr, wenn er mich seine „Schönheit" nennt.

„Ich hab dich vermisst", säuselt Bruno an meine Stirn gelehnt und schaut mich durch dringlich mit seinen grünen Augen an, die meine Beine nach fast einem Jahr immer noch schwach werden lassen.

„Wir waren keine 24 Stunden getrennt", bemerke ich Augen rollend und lasse meine Finger unter sein T-Shirt wandern, um seine Bauchmuskeln zu inspizieren. Unter meinen Fingerspitzen spüre ich, wie Bruno eine Gänsehaut bekommt.

„Und außerdem wolltest du lieber Zuhause schlafen, ich wollte nicht das du gehst", erwidere ich und kneife ihm spielerisch in die Seite.

Er springt einen Schritt nach hinten, um sich meines Kneifens zu entziehen und nimmt stattdessen meine Hand in seine.

„Du weißt doch, wie meine Eltern sind", sagt er schulterzuckend und führt mich in Richtung des Schulgebäudes.

Richtig, seit ein paar Monaten verhalten sich Brunos Eltern tatsächlich merkwürdig, vor allem, was das beieinander übernachten angeht. Brunos Eltern hielten es für das Beste, wenn sie einige Regeln für uns aufstellen, was das beieinander schlafen angeht. Wobei es uns vollkommen klar ist, dass es sich dabei, nicht um das „beieinander" Schlafen handelt.

Die erste Schulstunde des neuen Schuljahres, haben wir in unserem Klassenzimmer und wie könnte es anders sein, warten dort auf unseren Plätzen auch schon Thea und Melissa auf uns. Wir fallen uns zu dritt in die Arme, als ob wir uns die ganzen Sommerferien über nicht gesehen hätten. Aber das stimmt nicht, ich habe die zwei das letzte Mal am Samstag in der Stadt bei einer Shoppingtour gesehen.

„Hey ihr zwei", begrüße ich sie und drücke sie fest an mich. „Freut ihr euch auch schon so auf das letzte Jahr?", jubele ich und erhalte von meinen Mädels Applaus und jede Menge Zuspruch. Das wird unser Jahr. Thea, Melissa und ich sind schon seit unserer Kindheit befreundet und seitdem unzertrennlich.

Es klingelt pünktlich um 8 Uhr zur ersten Stunde und unsere Mentorin Frau Glanz erscheint in der Tür. Aber Frau Glanz ist alles andere als glänzend, eigentlich ist ein ziemliches Biest, sie kann keinen von uns leiden und wir sie genauso wenig. Ich denke, das hat sie nach über drei Jahren gespürt. Ganz im Gegensatz zu unserem Deutschlehrer Herr Hene. Er ist ein für uns ein steinalter Mann, der uns sie Literatur näher bringen möchte und immer ein offenes Ohr für seine Schüler hat. Jeder mag ihn und mein Lieblingslehrer ist er noch dazu!

Zum Ende der Stunde übergibt sie uns endlich unsere neuen Stundenpläne und das Warten hat ein Ende. Es gibt nichts Interessanteres, als am ersten Tag nach den Ferien den neuen Stundenplan zu erhalten, aber das sieht Frau Glanz anders. In ihrem Handeln sind durchaus sadistische Züge zu erkennen.

Ich studiere ihn ganz genau und erkenne, dass ich Dienstag und Mittwoch jeweils eine Doppelstunde Deutsch habe und Freitag in der letzten Stunde. Der Rest interessiert mich herzlich wenig.

Nach einem ersten Tag, der sich wie ein alter, labbriger Kaugummi gezogen hat, ist die letzte Stunde vor der Mittagspause zu Ende, schnell räume ich all meine Sachen vom Tisch und eile zur Cafeteria. Unterwegs höre ich schon meinen Bauch so laut knurren, dass sich die Leute, an denen ich vorbeilaufe, umdrehen. An unserem Tisch sitzen schon Melissa und Bruno, die sich hitzig miteinander unterhalten. Das Szenario, dass vor meinen Augen stattfindet, lässt mich stutzig werden. Auch wenn wir so etwas wie eine Clique sind, habe ich die beiden sich wenig zu sagen und noch weniger Grund sich zu streiten. Doch je näher ich komme, desto verhaltener wird Melissa. Ihr Blick wandert immer wieder zwischen mir und Bruno hin und her, bis auch Bruno zu mir aufsieht und sich durch seine schwarzen Haare fährt. Sofort ist der ernste Gesichtsausdruck aus seinem Gesicht verschwunden und ein breites Lächeln kommt zum Vorschein.

„Worüber habt ihr gesprochen?", frage ich ohne Hintergedanken, während ich mich auf den freien Stuhl neben Bruno fallen lasse und drücke ihm einen Kuss auf die Wange zur Begrüßung.

„Nichts Wichtiges", tut Melissa ab und setzt ein fröhlicheres Gesicht auf. Sie muss sich wegen irgendetwas mit Bruno gestritten haben. Auch wenn ich ihn liebe, weiß ich, dass er, wenn ihm etwas nicht passt, sich schnell angegriffen fühlt und sich zu verbal zu wehr, setzt.

„Na gut", erwidere ich und hole mein Essen aus meiner Tasche. Ich öffne die Dose und die restlichen Pfannkuchen von unserem Frühstück kommen zum Vorschein. Noch bevor ich mir einen nehmen kann, sind Brunos Hände schneller und haben sich den ersten geschnappt. „Hey", beschwere ich mich und ziehe ein schmollendes Gesicht. „Sorry Süße, aber die Pfannkuchen von deiner Mutter, sind einfach die Besten", erklärt er sich und verdrückt ihn auf einmal, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken.

„Leute!!", ertönt lauthals Theas Stimme von der anderen Seite des Raumes. Wie von der Tarantel gestochen hechtet sie zu uns und knallt einen Flyer auf den Tisch. „Dort!! meine Lieben!! Werden wir nächstes Wochenende meinen 18. Geburtstag feiern!", prescht sie hervor und hüpft vor uns auf uns ab. Wir schauen alle drei auf den Flyer. Es ist ein Flyer von dem Club, von dem die letzten Abschlussklassen erzählt haben. „Kommt ihr mit? Was frage ich das eigentlich, natürlich kommt ihr mit. Als hättet ihr eine andere Wahl!?"

Und so schnell, meine Damen und Herren, bin ich für das nächste Wochenende verplant. Aber etwas anderes, wie Theas Geburtstag zu feiern, stand für das Wochenende sowieso nicht an. Immerhin wird sie 18! Meinen 18. Geburtstag habe ich mit Bruno verbracht, wir hatten bei seinen Eltern ausnahmsweise Sturmfrei. Er hat mir das Armband geschenkt. Es hat zwei kleine Buchstaben als Anhänger ein B und ein T. Ich habe es seitdem nicht mehr abgenommen.

„Also, was sagt ihr?"

„Haben wir denn eine andere Wahl?", scherzt Bruno und spüre auf meinem Bein Brunos Finger, die meinen Oberschenkel auf und ab laufen und mir einen Schauer über den Rücken fahren lässt. „Lass das", flüstere ich Bruno zu und halte seine Hand fest, damit sie an einer Stelle bleibt. Ich schaue auf und sehe zu Melissa, die mich mit weit aufgerissenen Augen ansieht. Was ist heute bloß los mit ihr?

„Wir gehören das Wochenende ganz dir", versichere ich ihr und Thea quiekt und nimmt endlich neben Melissa Platz, damit wir unser Essen genießen können.



„Wie war der erste Schultag?", fragt uns unsere Mutter, während ich mit Marlon im Wohnzimmer fernsehe, zumindest Marlon. Mein Blick gilt vielmehr meinem Smartphone, auf dem ich mit Melissa schreibe. Eigentlich wollte ich heute Abend noch zu Bruno, allerdings geht er heute Abend mit seinen Kumpels Fußball spielen und ihnen dabei zuzuschauen, wie sie einander faulen, hatte ich wenig Lust darauf.

„Bis auf, dass uns Frau Glanz immer noch das Leben schwer machen will, ganz okay", erwidere ich und richte meine Aufmerksamkeit wieder meinem Handy. Ich habe Melissa nochmal wegen des Vorfalles in der Cafeteria angesprochen, doch sie beharrt darauf, dass es sich lediglich um die letzte Stunde gehandelt hat, die die beiden zusammen hatten.

„Und bei dir, Marlon?", bohrt sie weiter und setzt sich neben Marlon aufs Sofa, um ihm die Fernbedienung aus der Hand zu nehmen und drückt auf Pause. „Mensch Mama! Muss das sein, das war die spannendste Stelle!", nörgelt Marlon und will sich die Fernbedienung zurückholen, jedoch ohne Erfolg. Samt der Fernbedienung setzt sich unsere auf den Sessel gegenüber des Sofas, auf dem wir beide sitzen.

„Ich habe bloß auf Pause gedrückt und nicht den Film beendet. Würdest du mir jetzt also bitte eine Antwort geben?", wiederholt sich meine Mutter und klimpert mit ihren langen schwarzen Wimpern, die ich zum Glück von ihr geerbt habe und nicht die kurzen blonden von meinem Vater.

„Es gab nicht viel Neues. Immer noch die gleiche ätzende Klasse und ein paar neue Lehrer", antwortet mein Bruder schließlich. „War das jetzt so schwer?", meine Mutter hält meinem Bruder die Fernbedienung hin, doch bevor er sie nehmen kann, hält sie sie wieder zurück. „Welche neuen Lehrer? Davon stand gar nichts in der E-Mail, die wir vor den Ferien erhalten haben."

„Wenn ich es dir sage, gibst du mir dann die Fernbedienung zurück?" Meine Mutter nickt und wartet erwartungsvoll.

„Herr Hene hatte wohl einen Schlaganfall und kann nicht mehr unterrichten und jetzt.."

„Herr Hene hatte WAS?", unterbreche ich Marlon und lege mein Handy unsanft auf den Glastisch, sodass es laut klirrt.

„Ja, er wird dieses Schuljahr nicht mehr unterrichten, hat uns Herr Schulte erzählt. Frau Glanz hasst euch wohl echt, wenn sie euch verschweigt, dass dein Lieblingslehrer nicht mehr da ist", berichtet Marlon und schnappt sich endlich die Fernbedienung, drückt aber noch nicht auf Play, viel lieber beobachtet er mich dabei. Wie ich mich gerade von einer leichten Herzattacke zu erholen versuche. „Herr Hene ist Steinalt, eigentlich sollte der doch sowieso schon längst in Rente sein", pflichtet Marlon mir bei, während ich noch immer regungslos auf dem Sofa lehne. „Na ja, auf jeden Fall gibt es einen neuen Deutschlehrer Herr Engel."

Es muss ein Geheimnis bleibenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt