3. Kapitel

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Wie angekündigt hat sich Bruno heute einen Tag freigenommen und hat mir ein Bild von sich in seinem Bett geschickt, auf dem er oben ohne zu sehen ist. Augen rollend schreibe ich eine Nachricht an ihm, dass ich ihm einen schönen Tag wünsche und wir uns morgen wiedersehen. Gestern Abend habe ich Melissa noch eine Nachricht geschrieben und sie gefragt, ob wir heute nach der Schule einen Kaffee trinken gehen wollen, also bin ich für heute verplant. Hoffentlich sieht Bruno es endlich ein, dass er, wenn er schwänzt, keiner Zeit hat und er sich alleine zu Hause langweilt. Denn, Langeweile kann er gar nicht leiden. Bruno gehört eher zu den extrovertierten Menschen und braucht immer irgendjemanden um sich.

Bruno und ich könnten in so manchen Angelegenheiten nicht unterschiedlicher sein. Ich bin froh, wenn ich einfach mal meine Ruhe habe und mich meinem Hobby widmen kann.

Vor zwei Jahren habe ich begonnen zu Bouldern. Zwei Ortschaften weiter gibt es eine große Boulderhalle, die ich durch Zufall auf Instagram gefunden habe. Zu meinem Glück habe ich niemanden gefunden, der gerne mit mir klettern geht und habe dort meine Ruhe. Bis auf Marlon, der alle paar Monate dem Bouldern eine Chance gibt. Doch bis jetzt, hat es nie so lange angehalten, dass er regelmäßig mit mir gehen will.

Vor Beginn der ersten Stunde Mathe treffe ich mich mit Thea und Melissa vor der Cafeteria, die sich dort ihren ersten Kaffee holen. Ich habe wie immer meinen Thermobecher dabei.

„Hey ihr zwei", winke ich und geselle mich zu ihnen.

„Hi Toni", begrüßen mich die beiden und ziehen mich in eine kurze Umarmung.

„Melissa, ist alles in Ordnung?", frage ich und schaue mir ihr Gesicht genauer an. Ihre Augen sind ganz glasig und gerötet, als hätte sie geweint. Es ist schon das zweite Mal, diese Woche, dass ich sie nicht ganz fit erlebe. Langsam mache ich mir Sorgen.

„Ja, alles in Ordnung", tut sie ab, aber ich sehe ihr an, dass es das nicht ist.

„Bist du sicher? Du siehst aus, als hättest du geweint", bringt sich nun auch Thea ein, die ihr besorgt eine Hand auf die Schulter legt, doch Melissa weicht zurück und schüttelt ihre Hand ab.

„Ich.. ich will nicht darüber sprechen", stottert sie, verschränkt ihre Arme vor der Brust und geht in Abwehrhaltung. „Ich denke.. ich werde nach Hause gehen. Wir sehen uns dann morgen."

„Was ist mit heute Mittag?", will ich wissen und sehe zwischen ihr und dem Weg, denn sie rückwärts zurücklegt hin und her.

„Wir verschieben das!", sind ihre letzten Worte, bevor sie uns vollends den Rücken zu dreht und aus unserem Sichtfeld verschwindet.

„Sie benimmt sich schon die ganze Woche so komisch, verliert aber kein Wort darüber, was sie so beschäftigt", erklärt mir Thea und hackt sich bei mir ein und wir gehen zur ersten Stunde, die in unserem Klassenzimmer stattfindet, wie fast alle unsere Fächer.

Da unsere beiden Sitznachbarn heute nicht anwesend sind, habe ich mich zu Thea eine Reihe weiter hinten gesetzt, um schon mal angefangen Pläne für ihren Geburtstag, der nächstes Wochenende ist zu schmieden. Das einzige Problem, dass wir noch nicht gelöst haben, ist, wie wir Melissa in den Club bekommen. Sie ist noch 17 und wird erst einen Monat später 18. Vielleicht bekommt sie den Ausweis von ihrer Schwester geliehen.

Dass wir durch unser Quieken und Lachen den Unterricht stören, interessiert unseren Mathelehrer nicht. Für ihn gilt nur, wer in den Klausuren gut abschneidet. Mündliche Mitarbeit zählt bei ihm nicht. Wer nicht mit macht oder zuhört, muss selbst dafür sorgen, dass er den Stoff versteht. Letztes Schuljahr gab es tatsächlich einen Tag, an dem ich nicht imstande war, seinem Unterricht ordnungsgemäß zu folgen. Gut möglich, dass es daran lag, dass wir Brunos 18. Geburtstag gefeiert haben, mit etwas Alkohol. Okay, mit sehr viel Alkohol. Und da ich noch nie in meiner gesamten Schullaufbahn geschwänzt habe, habe ich mich mit einem dicken Kopf und Übelkeit in seinen Unterricht gequält.

Im Endeffekt, habe ich an diesem Tag nichts gelernt und hätte mit dem Tag sparen können. Am Nachmittag hat mir mein Vater, bei dem Thema, das wir zu diesem Zeitpunkt behandelt haben, weitergeholfen und ich habe den Anschluss nicht verpasst. Das war das erste und letzte Mal, dass ich unter der Woche getrunken habe.

Bevor es zur nächsten Stunde gongt, setzen sich alle meiner Mitschüler auf ihren Platz, nur ich bleibe neben Thea sitzen. Ich möchte nicht alleine an meinem Tisch sitzen.

Die Klasse verstummt, doch Thea und ich führen unser Gespräch, über ihren Geburtstag, unbeirrt fort, bis Herr Engel im Klassenzimmer erscheint und direkt mit dem Deutschunterricht beginnt.

Heute ist er deutlich besser vorbereitet als gestern und bespricht mit uns, welche Themen wir das erste Halbjahr durchnehmen werden. Großes Gestöhne erklingt aus der hintersten Reihe, als das Thema Gedichts Interpretation fällt. Dieses Thema haben wir als letztes vor den Ferien bei Herr Hene angebrochen, aber leider nicht beendet.

Die Doppelstunde bei Herr Engel, verfliegt erstaunlich schnell, zu meiner Überraschung. Vielleicht ist er doch nicht so verkehrt, wenn er mich nicht bei jeder Gelegenheit Antonia nennen würde.

„Bevor Sie gleich alle in die Pause verschwinden, würde ich noch gerne die Hausaufgabe von gestern einsammeln. Legen Sie sie mir einfach auf meinen Schreibtisch", erwähnt Herr Engel und der Pausengong durchdringt das laute Räumen der Unterlagen auf den Tischen.

„Was hast du jetzt?", will Thea wissen, die ihre Sachen schon zusammen geräumt hat. Ich ziehe meinen Stundenplan aus der Tasche „Ich habe jetzt eine Freistunde und danach noch Politik", antworte ich ihr.

„Hast du es gut, ich habe heute Mittag noch zwei Stunden Spanisch..", jammert Thea und lässt ernüchternd ihre Schultern hängen. Sie selbst hat sich für diesen extra Kurs eingetragen und bereut es schon nach nicht mal der ersten Stunde.

Alle haben es inzwischen aus der Klasse in die Pause geschafft, nur ich mal wieder nicht, da ich zuerst mein Handy checke, ob mir Bruno oder Melissa geschrieben haben. Aber Fehlanzeige, keiner der beiden hält es für nötig. Bruno ist sicher wieder eingeschlafen und Melissa, um sie mache ich mir ernsthafte Sorgen. So kenne ich sie gar nicht, irgendetwas brütet sie aus.

„Antonia?", erklingt die Stimme von Herrn Engel, der über das Klassenbuch gebeugt zu mir sieht.

„Ja?", ich fahre von meinem Handy direkt zu ihm hoch und stecke es zurück in meine Tasche, zu den restlichen Sachen. Seine hellblauen Augen, sind das erste, dass mir in die Augen stechen. Sie sind so klar, wie der Himmel, wenn keine eine Wolke in Sicht ist.

„Ihre Hausaufgaben?", erinnert er mich und sofort hole ich eine Mappe aus meiner Tasche.

Mit ausgestreckter Hand wartet er auf mich und ich lege meine Mappe darein.

„Tackern hätte gereicht."

„Ein Lebenslauf ist ein Teil einer Bewerbung und diese gibt man in einer Mappe ab", erkläre ich und bin zufrieden mit meiner Arbeit.

„Da haben Sie recht, Antonia."

„Toni", korrigiere ich ihn und starre in seine blauen Augen, die meinem Blick standhalten.

Auf seinen Lippen schleicht sich ein Lächeln ein, dass seine weißen Zähne freilegt.

„Bis Freitag, Antonia."

Ich verdrehe die Augen. Wird er es irgendwann lernen?

„Bis Freitag, Herr Engel."



Da meine Pläne für den heutigen Tag sich verändert haben, laufe ich statt zum Café, dass sich auf der anderen Straßenseite befindet, in dem ich eigentlich mit Melissa verabredet war, zu meinem Auto. Ich hätte zwar Kaffeedurst, aber diesen kann ich auch Zuhause stillen.

Ich trotte auf mein Auto zu und erkenne das schwarze Auto, das neben meinem parkt. Es ist das gleiche Auto, wie gestern. Herr Engels Auto. Mit meinem Schlüssel entriegle ich mein Auto und öffne meine Tür, doch anstatt mich in mein Auto zusetzen, schaue ich mich auf dem Parkplatz um, stelle sicher, dass mich keiner beobachtet, bevor ich meine Neugierde stille und einen Blick in sein Auto zu werfen.

Im Innenraum kann ich kein einziges Krümelchen Dreck entdecken, ob er ordentlich ist oder das Auto einfach neu? Auf jeden Fall könnte sich Bruno mal eine Scheibe davon abschneiden. Sein Auto gleicht einer Müllhalde. Bis auf einen Kaffeebecher und ein USB-Kabel, befindet sich nichts Persönliches, in seinem Auto.

Je länger ich in das leere Auto starre, desto bescheuerter komme ich mir vor und schüttle ernüchternd meinen Kopf und setze mich endlich in mein Auto.

Nachdem ich meine Hausaufgaben erledigt habe und meine Tasche für den morgigen Tag gepackt habe, lege ich mich mit gemütlichen Klamotten in mein Bett und schnappe mit meinem Laptop und versacke auf Netflix. Parallel scrolle ich auf meinem Handy durch Instagram und Facebook.

Von der Serie, die auf meinem Laptop läuft, bekomme ich herzlich wenig mit, genauso wenig wie ich dem, was ich auf Instagram like meine Aufmerksamkeit schenke. Ich beende die Serie und entdecke auf meinen Desktop meine Hausaufgaben für Deutsch.

Per Doppelklick öffne ich sie. Ganz oben steht dick und fett mein Name Toni Thaler. „Ich denke, das sollte deutlich genug sein", sage ich leise zu mir selbst und schließe die Datei wieder und klappe meinen Laptop zu. Die einzige Lichtquelle in meinem Zimmer erlischt und ich bin in Dunkelheit gehüllt.

Warum weigert er sich, mich Toni zu nennen? Bis jetzt war das noch für niemanden ein Problem, immerhin ist es meine Entscheidung. Hat er was gegen Spitznamen oder ist er einfach so ignorant? Und warum mache ich mir überhaupt solche Gedanken deswegen? Er ist mein Lehrer, es sollte mir egal sein.

Sollte es.

Tut es.

Nein, tut es nicht.

Verdammt.

Das Licht meines Laptops erhellt mein Zimmer und ich gehe auf die Homepage der Schule. Ich muss herausfinden, wie sein Vorname ist, vorher lässt mir das keine Ruhe.

Welcher Name, der so lang ist, ist denn bitte schöner als ein passender Spitzname?

Ich klicke auf den Reiter „Kollegium" und die Bilder aller Lehrer erscheinen. Ich scrolle runter, bis ich bei „E" angekommen bin und in der dritten Spalte finde ich ihn. „Engel, N."

Natürlich, bloß sein Initial. Wie soll ich denn so seinen Namen rausbekommen?

Schnaubend schließe ich erneut den Laptop und lasse mich auf den Rücken sinken.

In Gedanken gehe ich alle Namen durch die mit „N" anfangen durch, die mir einfallen und kombiniere ihn mit seinem Nachnamen. Nils, Noah, Noel.. aber keiner der Namen finde ich für ihn passend. Sie klingen alle nicht nach einem Lehrer, sondern nach einem normalen Mann. Andererseits sieht Herr Engel mit seinem lässigen Style nicht „unnormal" oder „Lehrerhaft" aus. Gestern ist er mit einer Lederjacke angekommen, das ist alles andere als „Lehrerhaft", vielmehr ist er heiß.

Das ist doch alles Mist, denke ich und greife nach meinem Handy und gehe auf Instagram, damit ich auf andere Gedanken komme. Ich sollte solche Gedanken nicht haben. Weg damit.

Wie erwartet, hält dieser Gedanke nicht lange an.

So jung wie Herr Engel aussieht, sollte er keine zehn Jahre älter als ich sein und sich wahrscheinlich auf Instagram herumtreiben. In der Suchleiste gebe ich seinen Nachnamen ein und bestätige die Suche. Zu meiner Enttäuschung finde ich eine ganze Reihe von Menschen die „Engel" heißen. Wie soll ich ihn bloß darunter finden, alle Profile durchzuklicken würde ewig dauern.

Aber da ich die Neugierde von meiner Mutter geerbt habe, fange ich an jedes einzelne Profil durchzuklicken.

Unzufrieden stelle ich fest, dass fast alle Profile privat sind und bei zwei N. Engel hätte ich schwören können, dass sich dabei um meinen Lehrer handelt. Es ist sogar sehr wahrscheinlich, dass wenn eines der Profile ihm gehört, dass es auf privat steht. Welcher Lehrer, stellt sein Profil öffentlich und lässt seine Schüler seine privaten Bilder sehen? Das sollte kein Lehrer tun. Und schon gar nicht, wenn er aussieht wie ein Model.

Doch ich gebe die Suche nicht auf, auch wenn ich genau weiß, dass ich es lassen sollte, entdecke ich als fast letztes einen „Nick Engel". Ich hadere mit mir, ob ich wirklich auf das Profil klicken soll. Wenn er es wirklich ist und sein Profil öffentlich ist, verletze ich nicht so seine Privatsphäre? Andererseits, wenn es öffentlich ist, dann will er es nicht anders.

Und tatsächlich, das Profil ist öffentlich und eine Reihe von Bildern erscheint vor meinen Augen. Bilder, die eindeutig zeigen, dass es sich dabei um meinen Lehrer Herr Engel handelt. Bilder, die eindeutig nicht für die Augen seiner Schüler bestimmt sind. Also für mich, denn ich bin seine Schülerin. Aber das hält mich nicht davon ab, mir ein Bild nach dem anderen anzusehen.

Es sind Bilder zu sehen, auf denen er mit Freunden zusammen ist, von der Uni, auf Partys, in Clubs, Porträts und Bilder auf denen er mit nackten Oberkörper am Strand liegt. Besonders ein Bild, auf dem er oben ohne ist, lässt mich nicht wegschauen, sondern näher ran zoomen.

Es zeigt ihn, wie er gerade aus dem Meer läuft und sich die Haare mit einer Hand nach hinten legt. Doch mein Augenmerk liegt auf seinen definierten Bauchmuskeln. Dass mir nicht der Sabber aus den Mundwinkeln läuft, ist alles. Wie kann man nur so gut aussehen und Lehrer sein? Als Model wäre er tausendmal besser aufgehoben.

Schweren Herzens löse ich mich von den Bildern und kehre zu meiner eigentlichen Angelegenheit zurück. Mein Plan ist es, herauszufinden, wie sein Vorname lautet. Hier steht, dass er Nick heißt. Nick. Wer heißt denn bitte Nick? Es sollte doch eigentlich Niklas heißen.

Ich kenne einige die Niklas heißen und sich mit Spitznamen Nick nennen, aber kein einer davon heißt nur „Nick".

Wie scheinheilig ist das denn bitte? Er nennt sich selbst bei seinem Spitznamen, will aber mich, die darauf besteht, nicht Toni nennen? Das ist ganz schön unverschämt.

Am liebsten würde ich ihm, dass am Freitag gleich vorhalten, doch dann müsste ich mich erklären, woher ich seinen Vornamen kenne. Ich kann ja schlecht von meiner kleinen Detektiv-Recherche berichten, das würde ein falsches Licht auf mich werfen. Das geht nicht. Am Ende denkt er noch, ich würde ihn stalken oder ihn ein wenig zu sehr mögen. Ausgeschlossen. Das ist nämlich auch gar nicht der Fall.

Es muss ein Geheimnis bleibenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt