Wir fuhren quer durch die Stadt. Das heißt: Er fuhr quer durch die Stadt. Ich saß natürlich nur anteilnahmslos als Beifahrer neben ihm und musste mich erneut mit seiner Gesellschaft abfinden, ob ich nun wollte oder nicht. Nicht, dass mein bescheuertes Herz nicht automatisch schneller geschlagen hätte, sobald ich ihn gesehen hatte. Allerdings hatte ich inständig gehofft wenigstens einige friedvolle Jahre auf diesem Planeten genießen zu dürfen, ehe er wieder da wäre. Für ihn mögen Jahrhunderte vergangen sein. Aber für mich? Ein paar Monate wenigstens wären doch wohl drin gewesen...
Als der Wagen an der nächsten Kreuzung rechts einbog musste ich es mir verkneifen, entnervt aufzustöhnen. Das Stadtbild änderte sich fast augenblicklich. Wir waren sehr nah an der City. Hochhäuser ragten in den Nachthimmel, beschienen vom diffusen Licht der Scheinwerfer. Es sah aus wie die Skyline einer dieser modernen Städte aus den USA. Ich hätte nie erwartet, überhaupt einmal in dieses Viertel zu gelangen. Wie auch, mit den finanziellen Verhältnissen einer Mittelstandsfamilie? Die Mieten hier waren viel zu hoch, die Marken-Läden maßlos überteuert und das, was an Kultur geboten wurde, konnte man bestenfalls als unbezahlbar beschreiben.
Es war also geradezu selbstverständlich, dass jemand wie der Graf in dieser Gegend sesshaft war. War er es überhaupt? Ich wollte es nicht wissen. Ich wollte ihn vergessen. Er war immer noch ein Vampir. Er wollte vor einer knappen halben Stunde mein Blut trinken. Er wollte es auch vor den wenigen Tagen auf dem Ball, der eigentlich Jahrhunderte zurück lag.
Ich schloss die Augen und versuchte das Ausmaß zu begreifen, das seine Anwesenheit bedeutete. Dass er hier war hieß, dass es nicht nur ein Traum gewesen war. Es war Realität. Ich war in der Vergangenheit gewesen. Ich hatte in einer Zeit weit vor unserer modernen Demokratie gelebt. Für fast eine Woche zumindest. Aber wie konnte so etwas passieren? Es gab keine Maschinen für derartiges. Alle Menschen, die daran arbeiteten waren bisher stets daran gescheitert. Oder hatte ich etwas verpasst? Nein. Das war ausgeschlossen. Es gab keine Zeitmaschinen. Und doch war ich dort, ohne dass sich irgendetwas geändert hatte. Ich war zurückgekehrt. Und alles, was geschehen war, war mein Verschwinden in der Gegenwart, das jeder als Entführung akzeptiert hatte, nachdem ich auf der Geschichte beharrt hatte. Wer hätte mir anderes schon geglaubt?
Und Feli... Sie war dort geblieben. Mir wurde übel. Wie jedes Mal, wenn ich an das aufgeweckte, fröhliche Mädchen dachte, das ich hatte kennen lernen dürfen. Sie war ermordet worden. Von dem Mann, der jetzt neben mir saß. Mir wurde bewusst, dass sie nun weit länger auf dieser Erde wandelte als ich. Sie war nun sozusagen älter als ich. Um Jahrhunderte. Das machte die Übelkeit nicht besser.
"Wir sind da", erklärte der Graf schließlich und durchbrach damit die drückende Stille zwischen uns. Dass der ohnehin schon nur leise schnurrende Motor schwieg bemerkte ich erst jetzt.
Er stieg aus, während ich ihm noch wie benommen hinterher starrte. Erst einen Moment später kam ich auf den Gedanken, meinen Gurt zu lösen und selbst die Tür zu öffnen. Letzteres wurde mir jedoch von meiner 'Begleitung' abgenommen. Oh Gott! Wer öffnete denn heute noch irgendwem die Türen? Ich konnte das ganz gut alleine, schluckte meine Entrüstung in Anbetracht der Situation jedoch erfolgreich herunter.
Die Tür schloss sich hinter mir wieder. Ein typisches Piepen signalisierte die Verrieglung des Wagens. Ich fragte mich, wozu, sah dieser Betonklotz von Tiefgerage doch keineswegs Einbruchsgefährdet aus. Hier stand ohnehin kaum ein Auto. Aber gut, beim zweiten Blick musste ich zugeben, dass die Karossen, die hier standen, sicherlich jede für sich nicht unter 150 PS kamen. Ich wollte gar nicht daran denken, wie schäbig unsere 80 PS Krücke dagegen aussehen würde.
"Hier entlang", hallte die monotone Stimme des Grafen durch die Katakomben.
Wann genau hatte er diese verdammt verwirrende Kälte aufgesetzt? Hatte ich etwas falsch gemacht? Wollte er sein perverses Spiel jetzt im eigenen Nest weiter spielen?
DU LIEST GERADE
Gegenwart ist Fluch
FanfictionDie Zeit ist ein Paradoxon. So vergehen für den einen über 200 Jahre, in denen er dem einzigen Opfer hinterherjagt, das ihm entkommen konnte, während für andere Personen nur wenige Wochen vergingen. Für Laura hätte gerne mehr Zeit vergehen können, b...