Nie hätte ich gedacht, dass ich hierher zurückkehren würde. Die Sicherheit, die ich meinen Plänen beimaß, schockierte mich selbst. Sollte es an diesem Ort enden? War mein Leben tatsächlich auf diese schicksalhafte Art und Weise vorbestimmt? Und wenn es nicht so war - warum konnte ich nur diesen Weg sehen, so sehr ich auch in andere Richtungen zu denken versuchte?
Ein ganz eigenartiges Gefühl beschlich mich. Meine Beine wurden schwer wie Blei, nicht fähig, auch nur einen Schritt zu wagen. Gleichzeitig rannte mein Herz wilde kreise in meinem Brustkorb und jede Faser meines Seins war gespannt, bereit dem Ende ins Auge zu sehen - dort, wo es begonnen hatte. Thais linke Hand legte sich auf meine rechte Schulter. Ich seufzte, sah einen langen Moment in ihre so zuversichtlich glänzenden Augen. Hinter ihnen spürte ich die gleiche Angst, die auch in mir brodelte. Wir sprachen kein Wort darüber. Manche Dinge mussten nicht benannt werden, um zu wissen, dass sie da waren. Ich senkte den Blick und strich andächtig über die leichte Wölbung unter meiner Bluse. Es war keine lebenswerte Welt, in die ich diesen Wurm bringen würde. Doch ich konnte sie ein wenig erträglicher machen, wenn ich nur seine und meine Feinde beseitigen würde.
"Wollen wir?" Thai nickte den kahlen Mauern entgegen, vor denen wir standen.
Ich atmete tief durch, legte meine linke Hand auf ihre und umfasste sie mit leichtem Druck. "Du musst das nicht tun."
Sie lächelte mit halbem Mund. "Ich lasse dich nicht allein." Nach allem, was sie für mich bereits getan hatte und was sie bereit war über dies hinaus zu geben hätte kein Wort der Welt meiner Dankbarkeit Bedeutung verleihen können.
So widmeten wir uns stumm den Mauern, die so viele Erinnerungen in mir weckten. Wenngleich ein erschreckendes Maß an Verwüstung über ihnen lastete. Keine Pflanze hatte es gewagt, die jahrhundertealten Steine anzurühren. Das Tor zum Hof des einst prächtig furchteinflößenden Gebäudes hing lange nicht mehr in ihren Angeln. Überall fand sich geschmolzener Stein, Reste von Wänden und Balken, verwitterte Wege und Staub, der vielleicht einst die Asche eines verkohlten Vampirs gewesen sein mochte. Der Stall, in dem damals die Pferde gestanden hatten, war gänzlich verschwunden. Ich hörte fast das Schnauben der Tiere, konnte ihren Geruch in meiner Nase kitzeln spüren. In meinem Kopf hallte der Hufschlag des Pferdes wider, als es durchgegangen war, draußen im Wald.
Wir traten an das Haupttor des schwarzen Schlosses heran. Die schwere Flügeltür knarzte noch wie damals. Das kalte Kratzen von Stein auf Stahl ließ mich erschaudern. Doch statt der dämonischen Inneneinrichtung empfingen uns durchscheinende Fetzen des freien Himmels Rumäniens. Zu meiner Rechten ragte die Treppe hinauf, an deren Ende wir den Grafen bei seinem Unhang-Fauxpas beobachtet hatten. Wie sein Blick damals in meinem gebrannt hatte. Vermutlich hatte er damals noch irgendwo etwas Menschliches an sich gehabt, tatsächlich fühlen können und etwas ähnliches wie Liebe für mich übrig haben können. Aber jetzt? Nach all den Jahren, den vielen Leben, die er vorbeiziehen, beeinflusst und beendet hatte? Wie konnte jemand, der derart gelangweilt und zurückgelassen von der Welt war, noch Gefühle haben? Gab es überhaupt noch jemanden wie Breda - "den Menschen" - in der untoten Hülle?
Sein Anblick in London wollte mich von eben diesem überzeugen. Aber was hatte ich wirklich gesehen? Die Schwäche eines Vampirs. Sein Leid, das er auf ewig mit sich herumzutragen verflucht ist und das er doch immer und immer wieder zu verbannen versucht. Den Breda von einst hätte ich lieben können. Doch nicht den Vampir, der ihn von innen zerfressen hatte und sein Gesicht für Grausamkeit und Tod missbrauchte.
Ich führte Thai die Treppe hinauf und die Bilder verblassten wie der Rauch einer vergehenden Flamme. Das obere Stockwerk war nur noch bedingt passierbar. Die Hitze des großen Brandes hatte Löcher in den Boden gefressen und Ruß über die Wände gezeichnet. Der Westflügel war von Trümmern blockiert, im Ostflügel schienen die letzten Strahlen der Sonne durch Breschen im Mauerwerk. Wir tasteten uns langsam vor. Etwas zog mich magisch zu meinem ehemaligen Zimmer hin. Jener Raum, in dem mein Leben schlagartig verändert worden war. Als ich ihn erreichte, hing auch diese Tür längst nicht mehr in ihrem Rahmen. Ich erinnerte mich an die kunstvoll geformte Klinke, die Feli und ich so bewundert hatten. Den Blick in den Raum schweifen lassend konnte ich uns beide vor dem Kleiderschrank stehen sehen, wie wir begutachteten, was der Graf für uns bereitgestellt hatte. Ich rekonstruierte die Spinnweben an der Decke und das weiche Himmelbett, von dem nur noch verkohlte Zeichnungen auf dem Stein erkennbar waren. Ich hörte Feli, wie sie zu mir ins Zimmer kam, um ihre Ohrringe zu suchen, die wie mein Armband verschwunden waren. Im nächsten Moment verwirbelte das Bild zu jener Szene, als seine Hände zärtlich über meinen Körper fuhren und ich genossen hatte, was seine Erfahrung in mir auszulösen vermochte.
Mein Herz stolperte unbeholfen über den Moment des Glücks, den es nicht länger mit seinem Anblick überein bringen konnte. Eine Träne stahl sich aus meinem Augenwinkel. Ehe Thai sie bemerkte wischte ich sie mir von der Wange.
Wir ließen den Raum hinter uns. Ich dachte besser nicht mehr über das Geschehene nach. Es tat nicht gut, zu bereuen, was nicht mehr geändert werden konnte.
Der letzte Raum, den wir erreichen konnten, war das Kaminzimmer im Erdgeschoss, in dem der Graf mit uns gesessen hatte. Einen letzten Blick wollte ich hinein werfen. Nur, um es hinter mich zu lassen, um zu erkennen, dass die Zeit es längst verbrannt hatte, auch wenn meine Erinnerungen mir Täuschungen von damals vorgaukeln wollten.
Der Kamin war ebenso zusammengefallen wie das meiste vom alten Gemäuer. Die Regale warfen wie das Himmelbett nur noch die schwarzen geisterhaften Schatten ehemaliger Anwesenheit und der Ohrensessel war mitsamt der unglaublich bequemen Couch nur noch ein verstümmeltes Abbild seiner einstigen Eleganz. Nur das Gerüst aus hartem Edelholz war geblieben und dazwischen... Ich trat näher heran, um erkennen zu können, was nicht in das Bild verkohlter Möbel passen wollte. Als meine Finger das zusammengekräuselte, schwarz angelaufene Hartplastik berührten, schreckten sie zurück. Tränen schossen mir erneut in die Augen und in meinem Kopf spielte blechern verzerrt diese Melodie - Gangnam Style.
Thai kam zu mir gestürzt und schloss mich in ihre Arme. Ohne ihren Halt wäre ich wohl in die Knie gegangen, erschüttert von der Schuld, die über mich herein brach. Ich hatte sie umgebracht. Ich hatte sie in eine Welt gestoßen, die ich so verabscheute, die ich hasste und die nichts mehr übrig hatte für Menschen, Freundschaft und Liebe. Sie hatte damals nur ihre Eltern wiedersehen wollen. Wie lange hatte sie darauf gewartet, dass es endlich so weit war? Wie krank muss sie die Erkenntnis gemacht haben, dass sie vor ihnen existierte? Und wie sie Sarah hassen musste, die ihr das Leid ihrer Eltern angedroht hatte!
"Shhht, Laura, beruhige dich." Aus Thais Stimme sprachen selbst die Tränen. Ich klammerte mich an ihre Arme, ließ meinen Kopf gegen ihre Schulter sinken und heulte einen Fleck in ihre Jacke. "Es wird alles gut, hörst du? Bald ist es zu Ende." Sie strich mir sanft die wirren Strähnen aus der Stirn. "Bald ist alles zu Ende."
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Gegenwart ist Fluch
FanfictionDie Zeit ist ein Paradoxon. So vergehen für den einen über 200 Jahre, in denen er dem einzigen Opfer hinterherjagt, das ihm entkommen konnte, während für andere Personen nur wenige Wochen vergingen. Für Laura hätte gerne mehr Zeit vergehen können, b...