Das Wiedersehen

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"Ich weiß momentan einfach nicht, was mit mir los ist", gestand ich, meine Hände im Schoß knetend. "Es gibt Momente, in denen ich Lachen und einfach nur froh sein will und dann gibt es diese Momente, in denen mir nur zum Heulen zumute ist. Manchmal ertrage ich es nicht einmal, mit irgendwem in einem Raum zu sitzen und kurz darauf möchte ich die Welt um mich haben." So ausgesprochen klang es skurriler als in meinen Gedanken. Vor allem, da meine Stimme irgendwie abwesend klang. So wie eigentlich immer, wenn ich mit Thai Ming sprach, der sympathischen Frau Ende Zwanzig, die mir gegenüber saß.

"Seit wann treten diese Stimmungsschwankungen denn auf?"

Ich zuckte mit den Schultern. "Das kann ich so genau nicht sagen. Vielleicht vor zwei oder drei Wochen. Mir ist das erst vor kurzem bewusst geworden, als ich mich mit meinen Eltern zum Mittag gestritten habe."

"Warum habt ihr gestritten?"

Ich rümpfte die Nase. "Meine Mutter hatte mein Lieblingsessen gekocht. Aber an dem Tag hat es mich angewidert und ich hab keinen Bissen herunter bekommen."

"Dein Lieblingsessen?"

"Gefüllte Paprika mit dunkler, dicker Soße und Kartoffeln. Ich hab das früher tonnenweise essen können. Jetzt wird mir regelmäßig übel vom Geruch." Ich schüttelte den Kopf. "Stattdessen kann ich jetzt Gläser von Gewürzgurken essen. Nicht dass ich sie nicht vorher schon gemocht hätte, aber jetzt esse ich wesentlich mehr von denen."

Thai notierte etwas in ihrem kleinen Büchlein. Ihr Kuli kratzte auf dem Papier. "Ist dir öfters mal übel?"

Verwirrt sah ich sie an. "Nicht dass ich wüsste. Nein, eigentlich fühl ich mich sonst wohl."

Sie strich etwas durch und kritzelte Neues nieder. Zu gerne hätte ich in das kleine Buch hinein gelugt, doch kam ich nie auch nur in seine Nähe. Thai machte aus dem Ding ein heiden Geheimnis, dabei konnte doch nicht mehr drin stehen, als ich in unseren Sitzungen erzählte. "Nimmst du die Pille?"

Was?! "Ähm - ja. Natürlich." Auch wenn ich es eigentlich nicht müsste, sieht man von der verstörenden Liaison mit einem Untoten ab. Mir schauderte es noch immer, wenn ich daran dachte. Was hatte mich damals nur geritten, so auf ihn herein zu fallen? Wie hatte er meinen Verstand so manipulieren können? Ich hatte es stets gewusst, dass er nur unser Blut wollte. Und ich hab mich verführen lassen! Um den kleinen Finger hatte er mich gewickelt. Und am Ende hatte er gewonnen. Nun ja, zumindest Feli hatte er bekommen. Ich hörte nachts noch immer im Traum diesen Schrei, sah ihren flehenden Blick, die Enttäuschung und Hilflosigkeit darin.  

"Laura!"

Ich schreckte auf. Thais Hand lag auf meinem Unterarm. Ich zitterte - nein, schluchzte. Meine Wangen waren feucht von Tränen, als ich mit dem Handrücken über meine Augen wischte.

"Was macht dir solche Angst?" Thai sah mich aus großen dunkelbraunen Augen an. Sie brachte mir so viel Verständnis entgegen. Verdammt, ich wollte doch alles erzählen, mir alles von der Seele reden, doch wie konnte ich? Sie würde mich für verrückt erklären. Wer glaubte schon an Vampire?

"Nichts, es ist nichts", erklärte ich und fingerte in meiner Hosentasche nach einem Taschentuch.

"Laura, ich habe dich dreimal etwas gefragt. Du warst wie weggetreten, erzähl mir nicht, dass da nichts ist." Tröstend strich sie mir über die Schulter. Die Geste machte alles nur noch schlimmer.

Dennoch versuchte ich das beißende Gefühl in der Magengegend herunter zu schlucken. "Stress in der Schule, sonst nichts." Ich schnäuzte mir die Nase.

Thai glaubte mir nicht, das war nicht zu übersehen. Wahrscheinlich hätte ich an ihrem Studium gezweifelt, wenn sie es doch getan hätte. "Laura, ich sehe doch, dass dich etwas mehr als nur ein bisschen bedrückt. Bitte, mach dich nicht selbst kaputt. Du kannst jederzeit mit mir reden, über alles."

Gegenwart ist FluchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt