Schwarze Kapitel menschlicher Dichtkunst

45 6 0
                                    

Warten war nie eine Stärke von Krolocks gewesen. Weder damals, als ihn sein Vater zu Geduld und Kalkulation hatte erziehen wollen, noch die zweihundert Jahre über, in denen er sich wieder und wieder nach Laura verzehrt und seinen Frust darüber an unzähligen armen Geschöpfen ausgelassen hatte. Wie viele junge Frauen hatte er von der Klippe des Lebens gestoßen, hinein in den todbringenden Abgrund? Er wusste wohl noch die meisten ihrer Namen, doch hatte er sich irgendwann geweigert, sie noch zu zählen. Zu groß wurden die Skrupel. Wenn man keinen Überblick mehr über seine Taten hatte, wurden die Vergehen nichtig und unbedeutend. Wenn man sie jedoch genau kannte, waren sie ein Spiegel, der nicht mehr als grässlich verzerrte Fratzen abbilden konnte.

Seine Finger stoppten einen Augenblick in ihrem Bestreben, die Sessellehne zu malträtieren. War er tatsächlich zu solch einer grausamen Figur verkommen? Scheute er sich gar schon vor seinem eigenen Gesicht? Die langen Nägel bohrten sich krampfhaft in das Polster. Furcht war ein grausam schwaches Gefühl. Sie fraß sich durch alles Denken und Handeln und vergiftete die Vernunft. Nein, er durfte sich nicht fürchten. Nicht vor seinen Taten, noch vor denen der Magister. Sarah war dabei seine geringste Sorge. Aus einer Affäre mit van Helsing war sie in das Amt des Magisters gehoben worden. Sie war intrigant und rachsüchtig, doch keinesfalls von der Intelligenz, eine tatsächliche Gefahr darzustellen. Marin war sein langjähriger Freund und wohl der einzige Magister, dem er Vertrauen entgegen bringen konnte und wollte - auch wenn dessen Bürgschaft über das Kind unerwartet gekommen war. Was der Franzose damit bezweckte, was ihm schleierhaft. Doch wollte er nicht an der Taktik des Älteren zweifeln, der schon so manch ausweglose Schlacht für sich hatte entscheiden können.

Der größte, wohl kaum einzuschätzende Gegenpol war zweifelsohne van Helsing. Der einstige Vampirjäger war bekannt für seinen Ehrgeiz und seine Kreativität, was Lösungswege anging. Kaum ein Problem hatte er nicht lösen können. Noch heute erzählte man sich von dem glorreichen Kampf, in welchem er den großen Dracula unterworfen und vernichtet hatte. Vlad Tepes war mächtig gewesen. Ein Vampir von nicht zu unterschätzendem Einfluss. Ein wahrer Fürst der Finsternis, vielleicht der einzige, der je unter den unzähligen Sternen existiert hatte und existieren würde. Unter seiner Herrschaft hätte die Nacht über den Tag siegen können. Die Menschen hätten erkennen müssen, wie nichtig und unbedeutend sie sind. Doch war Tepes seine Macht zu Kopf gestiegen. Er hatte sich sicher geglaubt, unbesiegbar. Eine Legende, die nie vergehen könnte. Am Ende hatte es nur einer kleinen Gruppe mutiger und willensstarker Männer bedurft, die ihn in die Enge trieben. Wobei sie ihn und seine Brut wohl nie zerschlagen hätten, hätte er nicht den Fehler der Liebe begangen. Eine Frau, an der seine ganze Existenz zugrunde gegangen war.

Beging er gerade denselben Fehler? Von Krolock löste seinen unbarmherzigen Griff um die Armlehne des barocken Mobiliars und fuhr sich durch die langen schwarzen Strähnen. Er durfte sich keinen Fehler erlauben, wenn er gegen Helsing agieren wollte. Er musste dem Magister stets einen Schritt voraus sein. Doch konnte er das noch? Hatte er nicht sogar schon den ersten Fahler begangen? Natürlich hatte der Chauffeur den Tod verdient. Er hatte ihn verraten, wenn auch auf Befehl seines Vorgesetzten hin. Sein Ableben war eine nur allzu deutliche Drohung gewesen. Dass Helsing sie verstehen würde stand außer Frage. Nur wie wird er darauf reagieren?

Wie wird wohl der Mann, der in seinem Leben nur einen einzigen gravierenden Fehler beging, reagieren? Von Krolock konnte sich nicht entsinnen, jemals von einer unbedachten Tat van Helsings gehört zu haben. Er hatte stets alle Fäden in der Hand, plante alles voraus und kannte jeden möglichen Schachzug seines Gegners. Er war von nicht zu unterschätzender Intelligenz. Vor allem aber hatte er einen unglaublichen Willen, der ihn zu manch scheinbar unmöglicher Tat befähigt hatte. Ein einziger Fehler. Ein Fehler, dem der Magister seine Unsterblichkeit zu verdanken hatte. Es war ein Moment der Unachtsamkeit gewesen. Ein Schachzug, den er nicht im Visier gehabt hatte. Doch er hatte genügt, dass er in einen Hinterhalt geraten war. Blut gegen Blut. So hatten die einstigen Anhänger Draculas gedacht. Inzwischen lag ihre Asche durch den Wind verstreut in aller Herren Länder. Blut gegen Blut. Es war das einzige Gesetz der Nacht, dem jeder folgte.

Gegenwart ist FluchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt