Die Metro begrüßte mich in einer sauberen und gut beleuchteten Aufmachung. Leider wirkte sie dabei nicht freundlicher als der Heiligenschein eines Teufels. Die Betonwände starrten mir kalt entgegen, wo sie nicht von Plakaten verdeckt wurden. Einige Werbeposter waren neu angebracht, andere verwittert und halb vom Untergrund gelöst. Drei von ihnen priesen den neuen Dracula-Verschnitt in den Kinos, ein anderes wies auf eine Vorlesung von "Der Fürst der Finsternis" hin, die am nächsten Freitag um 23 Uhr stattfinden sollte. All die Abbildungen spitzer Zähne ließen mich schaudern. Ob sie dafür echte Modelle gefunden hatten? Ich wollte es erst gar nicht wissen.
Es gab nur ein Problem an meinem Plan, zu fliehen. Ich hatte kein Geld. Leider war dies trotz einiger logischer Unstimmigkeiten in Form von Unsterblichen noch immer eine höchst kapitalistische Realität. Und wie man inmitten der Stadt der Liebe mit Schwarzfahrern umging wollte ich nicht unbedingt herausfinden. Somit verkroch ich mich erst einmal auf eine Sitzbank am Rande der Unterführung.
Eine ältere Frau kam gerade die Treppe zur Station herab. Sie hielt sich mühsam am Geländer fest. Ihr mausgraues Kostüm ließ sie skuril mit der Umgebung verschmelzen. Ich erwischte mich dabei, hinter ihrer hilflosen Fassade einen Hinweis auf Blutdurst zu finden, doch als sie das Ende der Stufen erreichte und erschöpft den Blick hob erkannte ich ihr gutmütiges, faltiges Gesicht. Wie paranoid war ich denn bitte? Ich sah eilig auf die Gleise, um nicht unhöflich zu starren. Zu spät wahrscheinlich.
Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die Frau zum Schalter ging, an dem man für gewöhnlich Tickets löste. In dem Moment, in dem sie sich ein kleines Kärtchen zog, rollte die Metro an und hielt quietschend vor meiner Nase. Die Dame wurde hastig und stopfte ihre Geldbörse in ihre Tasche während sie in Richtung Metro tappte. Auf meiner Höhe stolperte sie fast. Ein dumpfes Geräusch erklang. Sie steuerte weiter auf die Bahn zu.
Ich sah zu Boden und entdeckte das rote Lederbündel, das ihr Geld beherbergte. Für einen winzigen Moment dachte ich daran es einfach aufzuheben und zu behalten. Es wäre genug Geld darin, dass ich mir ein Ticket würde ziehen können. Sie würde es sicher nicht bemerken. Ich bückte mich und hob das Portmonee auf. "Madame! Madame, Sie haben etwas verloren!" Ich hielt die Börse in die Luft und lief der Dame winkend nach.
Sie stand bereits in der Tür der Metro und sah sich überrascht zu mir um. Es dauerte einen Moment, ehe sie begriff. Dann stand ich auch schon vor ihr. "Ihr Portmonee. Es ist aus Ihrer Tasche gefallen", erklärte ich ihr.
Sie sah mich überrascht an, dann schlug sich aufrichtige Dankbarkeit auf ihrem Gesicht nieder. "Oh, danke junges Fräulein!" Sie lächelte und roch dabei deutlich nach alter Frau. Sie war eine deutschsprachige alte Frau, wie ich perplex feststellte. Sie nahm ihre roten Lederbörse entgegen und kramte prompt darin rum.
"Ich habe nichts raus genommen", beteuerte ich ihr. "Ich hab nur gesehen wie Sie sie verloren haben und hab sie aufgehoben."
Doch da winkte die Dame aus dem Handgelenk ab. "Ist ja schon gut." Sie zückte eine Handvoll Münzen und drückte sie mir in die Hand. "Das ist für Sie. Es ist so schön, dass es noch ehrliche Menschen gibt. Dankeschön." Sie lächelte mich herzlich an.
Ich starrte perplex auf das Geld in meinen Händen. "Oh, Ähm... Danke." Ich sah zu ihr auf. Unsere Blicke begegneten sich noch einen kurzen Moment, dann schlossen sich die Türen der Bahn und die Metro fuhr los. Ich sah ihr hinterher, bis sie im Schwarz des Tunnels verschwand. Dann sah ich zum Geld, zum Tunnel und wieder zum Geld. Und dann zum Ticketautomaten.
Plötzlich sah das Ding für mich heilig aus. Es war nur Einbildung, das wusste ich. Und trotzdem war ich von einer göttlichen Fügung überzeugt. Erzählte man nicht öfters in Geschichten, dass Gott einem in jeder Form begegnen konnte? Hatte er sich mir soeben als liebenswerte alte Dame offenbart? Ich würde demnächst öfter mal zur Kirche gehen. Wenn ich denn irgendwann mal wieder zuhause wäre.
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Gegenwart ist Fluch
FanfictionDie Zeit ist ein Paradoxon. So vergehen für den einen über 200 Jahre, in denen er dem einzigen Opfer hinterherjagt, das ihm entkommen konnte, während für andere Personen nur wenige Wochen vergingen. Für Laura hätte gerne mehr Zeit vergehen können, b...