Alte Gefühle

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Wenn es tatsächlich einen Zustand geben sollte, den man als Ruhe vor dem Sturm bezeichnen konnte - dann war er hier geradezu greifbar. In einer Welle der Ehrfurcht stellten sich die Härchen auf meinen Armen auf. Die Erscheinung des Magisters war unbeschreiblich. So mächtig. So durchdringend. Ich wagte nicht länger ihn anzustarren. Beklommen ließ ich den Kopf hängen. Er würde doch nichts mehr ändern können. Sie wollten mein Kind töten. Und sie wollen mich töten. Das, oder schlimmeres. Wie sollte ein Vampir das verhindern können? Warum überhaupt sollte er?

"Stellt sie vor die Wahl, Helsing. Jetzt oder nie!", zischte die Rothaarige dem ersten Magister entgegen, warf mir dabei giftige Blicke zu. Blicke, die den Tod gesehen hatten und ihn wieder sehen wollten.

"Marin."

Ich sah doch wieder hoch, als die leise Stimme des Grafen die dröhnende Atmosphäre zerschnitt. Kraftlos hing er zwischen den Gardisten. Ein Haufen adligen Elends. Kaum zu glauben, dass er einem Angst einflößen konnte. So weckte er nur noch Mitleid.

"Marin, bitte! Lass es nicht zu." Ich konnte seine Augen nicht erkennen. Sein Kopf war gesenkt. Dennoch meinte ich etwas wie Blut an seiner Nase zu sehen. Sie mussten ihn wieder geschlagen haben...

Der einschüchternde Fremde betrachtete die Rothaarige und van Helsing mit eiskalten Augen. Grünes Eis mit roten Einfassungen am Rand der Iris. Sein Augenmerk zuckte zu mir. Schlagartig glotzte ich auf den Boden.

"Allein die Tatsache, dass diese Verhandlung ohne meine Anwesenheit begonnen wurde, verhindert ein zulässiges Urteil." Ich blinzelte nach oben. Sein Blick lag immer noch auf mir. Dieses Mal war ich wie gebannt. Ich konnte nicht weg sehen. Diese bleichgrünen Augen. Dieses Rot. "Davon abgesehen sehe ich keinen Grund, den es zu verhandeln gäbe." Sein Mundwinkel zuckte in Manier eines schiefen Grinsens nach oben. Dann sah er wieder zu Helsing.

Ich blinzelte benommen.

"Es betrübt mich zutiefst, Mylord des Cars, dass Euch der Anlass der Verhandlung nicht auffällt. Einem Mann Eurer Größe hätte ich einen wacheren Blick zugetraut." Helsing lehnte sich in seinem dezenten Thron zurück und legte die Fingerkuppen gemächlich aneinander.

"Sie weiß zu viel", schaltete sich auch die Rothaarige wieder ein. "Wäre das Eurer Meinung nach nicht Grund genug, sie auszuschalten, Mylord des Cars?"

Angesprochener Magister trat einen gelassenen Schritt auf sie zu und damit auch einen auf mich. Ich zog unwillkürlich den Kopf ein. "Unter Umständen." Es folgte ein weiterer wohlgesetzter Schritt. "Diese Umstände jedoch sind gänzlich andere. Keiner der Anwesenden hat je derartiges erlebt. Es sei denn, jemand aus dem Publikum wünscht diese Vermutung zu revidieren."

Einen winzigen Augenblick lang wisperte es auf den Rängen hinter mir. Marin, wie der Graf ihn genannt hatte, hob in majestätischer Würde eine Augenbraue an. Wäre mein Zustand nicht aufs miserabelste herabgesetzt, hätte ich mich sicher gefragt, wer diese Geste von wem abgeguckt hatte. Doch so bemerkte ich nur die erneut eintretende Totenstille. Wie passend.

"Wie Ihr seht, Mylady Chagal. Die Umstände sind prekär. Das bedeutet jedoch nicht, dass auch die Lösung prekär sein muss."

Etwas an seinen Worten ließ mich aufhorchen. Nur was?

"Prekär oder nicht. Wir sollten uns an dem orientieren, was gewiss ist. Sie ist eingeweiht. Das allein genügt."

Warum kam mir ihre Stimme so vertraut vor?

"Also wollt Ihr ein Ungeborenes zum Tode verurteilen, nur weil seine Mutter bescheid weiß?" In den Worten des Magisters schwang zorniger Nachdruck mit.

"Das Ungeborene ist ein Unfall, der nicht hätte geschehen dürfen und nie wieder geschehen sollte. Ihn zu tilgen ist ein Exempel. Und sie..." Sie richtete sich angespannt eine verirrte rote Locke. "Sie war ohnehin nicht mehr als eine Liaison Eures Freundes. Soll er das Urteil vollziehen. Immerhin wollte er sie schon zwei Mal umbringen." Arrogant lächelnd sah sie zum Grafen. "Beim dritten Versuch sollte es doch endlich funktionieren - oder nicht, Breda?"

Gegenwart ist FluchWo Geschichten leben. Entdecke jetzt