Quid Pro Quo

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»If you're going to makea desperate, hopeless act of defiance
you should make it a good one.«
- Ann Leckie


18. KAPITEL – QUID PRO QUO
HOGWARTS, 03.11.1941

Irene hatte noch nie zuvor in ihrem ganzen Leben irgendjemanden gehasst.

Sie hatte gehasst, wie ihre Eltern jede ihrer Bewegungen mitverfolgt hatten, skeptisch und wachsam, so als wäre sie eine tickende Zeitbombe gewesen, die jeden Moment hätte hochgehen können...

Sie hatte gehasst, wie bemitleidend ihre Lehrer sie an ihrem ersten Schultag angesehen hatten, so als wäre sie etwas Zerbrechliches gewesen, das man in Watte einpacken müsste...

Sie hatte gehasst, wie abweisend Olive ihren Bruder an seinem Geburtstag behandelt hatte, so als wäre sein Dasein eine Selbstverständlichkeit und kein Privileg...

Sie hasste Montage und sie hasste trockene Fächer wie Geschichte der Zauberei und sie hasste den Geruch von Rauch, und es hatte auch eine Zeit gegeben, in der die kleinsten, belanglosesten Dinge sie zur Weißglut getrieben hatten, Dinge wie ein schiefer Kalender oder ein herumliegendes Buch oder ein leerer Stuhl...

Aber Irene hatte noch nie zuvor in ihrem ganzen Leben einen anderen Menschen in seiner Gesamtheit, in jeder Facette seines Wesens gehasst.

Oder zumindest war das so gewesen, bis er sich in ihr Leben gezwängt hatte.

Zu behaupten, dass Tom Riddle Irene an Halloween den Appetit verdorben hatte, wäre eine gewaltige Untertreibung gewesen. Sie hatte im Jahr 1941 so einige Wutanfälle erlebt, wahrscheinlich sogar mehr als in all den vorherigen Jahren zusammen, doch nichts davon konnte auch nur annähernd mit dem wallenden Zorn mithalten, der während des Festmahls in ihr gebrodelt hatte und am liebsten über dem Tisch der Slytherins ausgebrochen wäre.

Den ganzen Abend hatte Irene den Blick auf ihren Teller gerichtet, denn obwohl sie es gehasst hatte, dass ihre Eltern mit ihr umgegangen waren wie mit einer tickenden Zeitbombe, war der Vergleich nicht unberechtigt gewesen, und anders als bei jenen Wutanfällen, bei denen die Inneneinrichtung ihres Heims die volle Ladung ihres Ärgers zu spüren bekommen hatte, wäre es dieses Mal wohl jemand aus Fleisch und Blut gewesen. So sehr Irene diesen Jemand auch mit jeder Faser ihres Körpers verabscheute, so sehr war ihr auch bewusst, dass sie es (spätestens wenn sie in einer Zelle in Askaban saß) bereuen würde.

Statt Tom Riddle also mehr oder weniger aus Versehen das gleiche Schicksal zu erteilen wie den explodierten Fenstern (Fotorahmen, Teetassen, Vasen...), hatte Irene den Zorn heruntergeschluckt, die Zähne zusammengebissen und ihre Pellkartoffel mit einigen energischen Gabelstichen zu Brei verarbeitet (wobei sie sich vorgestellt hatte, dass es das Gesicht eines gewissen dunkelhaarigen Slytherins gewesen wäre).

Das Wochenende hatte nichts zur Besserung von Irenes Stimmung beigetragen, im Gegenteil. Jedes Mal, wenn sich jemand aus ihrem Schlafsaal stöhnend den Kopf gehalten oder die Schläfen gerieben hatte, war eine neue Welle der Wut in ihr aufgestiegen und all der heruntergeschluckte Zorn hatte angefangen, an ihr zu nagen – zusammen mit einer Menge an Frust und Schuldgefühlen.

Logisch betrachtet wusste Irene, dass Tom Riddles Entscheidungen und Taten nicht ihrer Verantwortung oblagen. Dennoch konnte sie nicht anders, als sich vorzuwerfen, dass es niemals zu diesem ganzen Desaster gekommen wäre, wenn sie an diesem verhängnisvollen Tag, an dem sie ihm in der Bibliothek dieses wertlose Buch entwendet hatte, einfach den Kopf eingezogen und ihre Hände bei sich behalten hätte.

Es half auch nicht, dass Irene am Montagmorgen Zaubertränke mit den Slytherins hatte und Tom Riddle bester Laune wirkte, während sie das Gefühl hatte, langsam zu ersticken. Wie konnte er dort so nonchalant in seinem Kessel rühren, Professor Slughorn anlächeln und eine Frage nach der anderen beantworten, als wäre nichts gewesen? Wie konnte er so tun, als hätte er nicht die Privatsphäre mehrerer Menschen verletzt? War es ihm egal oder verstand er wirklich nicht, wie falsch, wie widerwärtig es war, sich an etwas so Persönlichem wie Erinnerungen zu vergreifen? Er hätte genauso gut in ihren Schlafsaal einbrechen, ihre Schränke durchwühlen und ihre Tagebücher lesen können.

Well Lived / Tom Riddle FFWo Geschichten leben. Entdecke jetzt