Wachse über dich hinaus

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„Was jetzt?", flüsterte ich und sah zu Hermine.
„Wir müssen uns hier drin verstecken", antwortete sie. „Wir müssen erst einmal warten, bis sie wieder im Schloss sind. Und dann, wenn es ungefährlich ist, mit Seidenschnabel zum Fenster von Sirius fliegen. Er wird erst in ein paar Stunden dort sein ... Mensch, das wird schwierig werden..."
Nervös blickte sie über die Schulter ins Dunkel des Waldes. Die Sonne ging jetzt unter.
„Dann lasst uns zur Peitschenden Weide gehen", schlug ich vor. „Wir müssen sowieso sehen was vor sich geht."
„Gut", sagte Hermine und klammerte die Hand noch fester um Seidenschnabels Leine.
Während wir am Waldrand entlangschlichen, senkte sich die Dunkelheit wie ein schwarzes Tuch über den Wald und uns. Schließlich versteckten wir uns hinter einer Gruppe von Bäumen, von der aus wir die Peitschende Weide erkennen konnten.
„Da ist Ron!", sagte Harry plötzlich.
Eine dunkle Gestalt hetzte über das Gras und ihre Rufe hallten durch die stille Nachtluft.
„Lass ihn in Ruhe – hau ab – Krätze, komm hierher!"
Und dann tauchten wie aus dem Nichts zwei weitere Gestalten auf. Ich beobachtete, wie Harry und Hermine Ron hinterherjagten, der jetzt ins Gras hechtete.
„Hab ich dich! Hau ab, du stinkender Kater!"
„Da ist Sirius!", murmelte ich. Der riesige Hund war zwischen den Wurzeln der Weide hervorgesprungen, wir sahen, wie der schwarze Umriss Harry zu Boden stieß und Ron packte ...
„Sieht von hier noch schlimmer aus, nicht wahr?", fragte Harry und beobachtete, wie der Hund Ron zwischen die Wurzeln zerrte. Ich nickte bloß und schluckte schwer. Obwohl ich von Anfang an gewusst hatte, dass der Hund in Wahrheit Sirius war und im laufe des Schuljahres immer mehr herausgefunden hatte, so war ich mir sicher, wäre ich dabei gewesen, hätte ich bestimmt gedacht er würde uns nun doch noch töten wollen.
Die Peitschende Weide ächzte und schlug mit den unteren Zweigen aus bis sie schließlich erstarrte.
„Jetzt hat Krummbein den Knoten gedrückt", sagte Hermine.
„Und los geht's", murmelte Harry. „Wir sind schon drin."
„Dann heißt es jetzt wohl wieder warten", sagte ich und setzte mich erneut ins hohe Gras. Diesmal würde es etwas länger dauern. Hermine nahm das Ende von Seidenschnabels Leine und wickelte es fest um den nächsten Baum, dann setzte sie sich neben mich auf den trockenen Boden und schlang die Arme um die Knie. Immer wieder wanderte ihr Blick zu mir doch sie sagte nichts. Worüber auch immer sie reden wollte, scheinbar wagte sie es nicht.
„Eins verstehe ich noch nicht... Warum haben die Dementoren Sirius nicht gekriegt? Ich weiß noch, wie sie kamen, und dann bin ich wohl ohnmächtig geworden ... es waren so viele...", murmelte sie irgendwann in die Stille.
„Jemand war da", murmelte ich. Harry sah auf.
„Du hast ihn auch gesehen?", fragte er aufgeregt. Ich nickte.
„Aber wer war das?"
„Ich hab keine Ahnung."
Harry antwortete nicht.
„Hast du nicht gesehen, wie er aussah?", fragte Hermine begierig. „War es einer der Lehrer?"
„Nein", antwortete ich. „Definitiv kein Lehrer."
„Aber es muss ein sehr mächtiger Zauberer gewesen sein, wenn er all diese Dementoren verjagen konnte ... wenn der Patronus so leuchtete, hat er ihn nicht beschienen? Konntest du nicht sehen –?"
„Ich hab ihn gesehen", sagte Harry langsam. „Beziehungsweise die beiden. Es waren zwei... Aber ... vielleicht hab ich's mir nur eingebildet ... ich konnte nicht klar denken ... gleich danach bin ich ohnmächtig geworden ..."
„Wer, glaubst du, war es?"
„Ich glaube...", Harry schluckte. Er wusste, wie seltsam dies klingen würde. „Ich glaube, es war mein Vater."
„Harry... Dad ist..."
„Das weiß ich", sagte Harry rasch. „Vielleicht hab ich mir alles nur eingebildet. Aber ... was ich gesehen habe ... sah wie Dad aus ... ich hab Fotos von ihm ..."
„Konntest du die zweite Person erkennen?", fragte ich doch Harry schüttelte den Kopf. Hermine sah ihn immer noch an, als machte sie sich Sorgen um seinen Verstand.
Eine leichte Brise ließ die Blätter über uns rascheln. Hinter den Wolken, die über den Himmel zogen, kam der Mond zum Vorschein und verschwand wieder. Hermine saß da, unverwandt auf die Weide blickend, und wartete. Und dann, endlich, nach über einer Stunde ...
„Da kommen wir!", flüsterte Hermine. Auch Seidenschnabel hob den Kopf. Wir sahen Lupin, Ron und Pettigrew mühsam aus dem Erdloch klettern, gefolgt von dem bewusstlosen Snape, der merkwürdig senkrecht dahinschwebte. Schließlich kamen Harry und Hermine und dann Sirius und ich. Wir machten uns auf den Weg zum Schloss.
Der Mond trat hinter der Wolke hervor. Ich sah, wie die kleinen Figuren auf dem Gras innehielten. Dann bewegte sich etwas.
„Das ist Lupin", flüsterte Hermine, „er verwandelt sich."
„Hermine!", sagte Harry plötzlich, „wir müssen fort von hier!"
„Das geht nicht, ich erklär dir doch ständig..."
„Er hat recht", unterbrach ich Hermine. „Lupin wird in den Wald rennen, direkt auf uns zu."
Hermine riss die Augen auf.
„Schnell!", stöhnte sie und sprang zu Seidenschnabel, um ihn loszubinden. „Schnell! Wo sollen wir denn hin? Wo sollen wir uns verstecken, die Dementoren werden jeden Moment kommen!"
„Zurück zu Hagrid!", sagte ich schnell. „Die Hütte ist leer – komm schon!"
Wir rannten, so schnell wir konnten, und Seidenschnabel setzte in langen Sprüngen hinter uns her. Schon hörten wir den Werwolf hinter uns heulen ...
Ich konnte die Hütte jetzt sehen. Harry rutschte zur Tür, stieß sie auf und Hermine, Seidenschnabel und ich flitzten an ihm vorbei. Harry stürzte uns nach und verriegelte die Tür. Fang, der Saurüde, kläffte laut.
„Schhh, Fang, wir sind's!", sagte Hermine. Rasch ging sie hinüber und kraulte Fang besänftigend die Ohren. „Das war wirklich knapp!", sagte sie.
„Jaah ..."
Harry sah aus dem Fenster. Von hier aus war kaum noch etwas zu sehen. Seidenschnabel schien überglücklich, wieder zu Hause zu sein. Er legte sich vor den Kamin, faltete zufrieden die Flügel und wollte offenbar ein kleines Nickerchen einlegen.
„Ich glaube, ich geh am besten wieder nach draußen", sagte Harry langsam. „Ich kann von hier aus nicht sehen, was passiert, und wir müssen doch wissen, wann es Zeit ist..."
Hermine sah ihn argwöhnisch an.
„Ich werde mit ihm gehen. Harry hat Recht. Wenn wir nicht sehen, was passiert, wie sollen wir dann wissen, wann es Zeit ist, Sirius zu retten?"
„Von mir aus ... ich warte hier mit Seidenschnabel ... aber sei vorsichtig, Harry – da draußen ist ein Werwolf – und die Dementoren!"
Harry und ich gingen hinaus und schlichen um die Hütte herum. Aus der Ferne hörte ich schwache Schreie. Die Dementoren mussten jetzt Sirius einkreisen und wir würden jeden Moment dazu stoßen...
Harry und ich schauten hinüber zum See.
„Ich hab sie auch gesehen", murmelte ich. „Du wartest auf sie oder?"
Harry antwortete nicht und so beobachteten wir still wie die Dementoren näher kamen. Sie kamen aus der Dunkelheit, aus allen Richtungen, und glitten am Ufer des Sees entlang ... sie entfernten sich von uns, schwebten hinüber zum anderen Ufer...
Wir rannten los. Ich wusste nicht was uns dazu ritt doch weder ich noch Harry konnten einfach still sitzen.
Der See kam näher und näher, doch niemand war zu sehen. Am anderen Ufer konnte ich dünne Silberschleier erkennen – Harrys Versuche, einen Patronus zu schaffen.
Wir versteckte uns hinter einem Busch am Wasser und schaute verzweifelt durch das Blattwerk. Das silberne Glimmen am anderen Ufer erlosch mit einem Mal.
„Komm jetzt!", murmelte er und spähte umher, „wo bist du? Dad, komm bitte..."
„Harry, ich glaube wir haben... wir haben uns..."
Harry schien im selben Moment zu begreifen. Wir stürzten hinter dem Busch hervor und zückten die Zauberstäbe.
„Zusammen?"
„Zusammen!"
„Expecto patronum!", riefen wir gleichzeitig.
Und aus der Spitze unserer Zauberstäbe brach etwas hervor, keine unförmige Nebelwolke, sondern zwei schöne, blendend helle, silbernes Tiere. Ich kniff die Augen zusammen und versuchte zu erkennen, was es war. Meins sah aus wie ein Pferd – es galoppierte lautlos davon, über die schwarze Oberfläche des Sees. Ich sah, wie es den Kopf senkte und mit den Hinterbeinen gegen den Schwarm der Dementoren ausschlug... Harrys Patronus sah fast aus wie ein Hirsch. Sie galoppierten beide im Kreis um die schwarzen Gestalten am Boden, und die Dementoren wichen zurück, zerstreuten sich, verloren sich in der Dunkelheit ... und waren verschwunden.
Die Patroni wandte sich um. Die Tiere galoppierte über den stillen See zurück. Sie leuchteten so hell wie der Mond am Himmel ... und kehrten zu uns zurück...
Am Ufer hielten sie inne. Ihre Hufe hinterließen keine Spur im weichen Boden. Das Pferd starrte mich mit seinen großen silbernen Augen an. Langsam neigte es den Kopf. Atemlos neigte auch ich meinen Kopf und legte eine Hand auf die wallende Mähne.
„Krone", flüsterte Harry und ich sah auf. Sein Patronus war tatsächlich ein Hirsch, ein wunderschöner Hirsch mit prächtigem Geweih.
Als Harry die Hand ausstreckte verschwand der Patronus zusammen mit meinem und es wurde wieder dunkel um uns...

Licht oder Dunkelheit - Die Geschichte der Potter Zwillinge #3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt