Irrwicht

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Lupin war noch nicht da, als wir zu seiner ersten Stunde Verteidigung gegen die dunklen Künste kamen. Wir setzten uns, packten unsere Bücher, Federkiele und Pergamentblätter aus und ein paar unterhielten sich bis er den Raum schließlich betrat. Lupin lächelte leicht und legte seine alte Aktentasche auf das Lehrerpult. Er sah noch immer so schäbig aus wie ich ihn kennen gelernt hatte, jedoch weit aus gesünder als er es noch im Zug getan hatte.
„Schönen Tag", sagte er zur Begrüßung und warf einen Blick in die Runde. „Würdet ihr bitte all eure Bücher wieder einpacken. Heute haben wir eine praktische Lektion. Ihr braucht nur eure Zauberstäbe."
Ich warf Hermine, die neben mir saß, einen neugierigen Blick zu. Wir hatten noch nie praktischen Unterricht in Verteidigung gegen die dunklen Künste gehabt, abgesehen von der unvergesslichen Stunde im letzten Jahr, als unser damaliger Lehrer einen Käfig voller Wichtel mitgebracht und losgelassen hatte. Im Stillen dankte ich dem Schicksal immer noch dafür, dass ich diese Stunde verpasst hatte.
„Alles klar", sagte Lupin, als alle bereit waren. „Dann folgt mir bitte."
Ratlos, aber gespannt standen wir auf und folgten Lupin aus dem Klassenzimmer. Er führte uns durch den verlassenen Korridor, und als wir um die Ecke bogen, sahen wir Peeves, den Poltergeist. Kopfüber in der Luft schwebend stopfte er das nächstbeste Schlüsselloch mit Kaugummi voll.
Peeves sah nicht auf, bis Lupin nur noch einen Meter entfernt war, dann wackelte er mit den Füßen, an denen er gekringelte Zehen hatte, und begann zu singen.
„Lusche Lusche Lupin", sang er, „Lusche Lusche Lupin, Lusche Lusche Lupin."
Grob und unbeherrschbar war Peeves zwar fast immer, doch immerhin zeigte er den Lehrern gegenüber meist ein wenig Respekt. Ich sah zu Lupin rauf dem das Lächeln nicht vergangen war.
„Wenn ich Sie wäre, Peeves, würde ich diesen Kaugummi aus dem Schlüsselloch holen", sagte er vergnügt. „Mr Filch wird sonst nicht in der Lage sein, zu seinen Besen zu gelangen."
Doch Peeves achtete nicht auf Lupins Worte, außer dass er laut und Speichel sprühend schnaubte. Lupin seufzte leise und zückte seinen Zauberstab.
„Ich glaube das ist nicht nötig Professor", sagte ich und trat nach vorne.
„Hallo Peeves", sagte ich zuckersüß zum Poltergeist dem das Grinsen vergangen war als sein Blick auf mich fiel.
„Oh guten Tag Lucy", antwortete er. Ich spürte die Blicke der anderen im Rücken.
„Würdest du uns bitte vorbei lassen?", fragte ich immer noch freundlich doch jeder hörte die Drohung dahinter. Auch Peeves der einen Moment noch zu mir sah und sich dann langsam durch die Wand hinter ihm von uns entfernte. Die zwei Jahre mit den Zwillingen hatten sich für den Umgang mit Peeves definitiv ausgezahlt. Der Poltergeist der eine natürliche Begeisterung für Scherze hatte hatte uns mehr als einmal aus der Patsche geholfen und irgendwann hatten wir eine Art Friedensvertrag geschlossen. Peeves würde uns in Ruhe lassen im Gegensatz dafür würden wir ihn nicht an den Blutigen Baron verpetzten vor dem Peeves sich fürchtete. Peeves Schwachstelle zu kennen war durchaus vorteilhaft.
„Beeindruckend Lucy", lobte Lupin und auch die anderen gaben anerkennendes Gemurmel von sich. „10 Punkte für Gryffindor!"
Und so machten wir uns wieder auf den Weg. Lupin führte uns einen weiteren Gang entlang und hielt vor dem Lehrerzimmer schließlich an.
„Hinein, bitte", sagte Professor Lupin, öffnete die Tür und trat beiseite.
Das Lehrerzimmer, ein langer, holzgetäfelter Raum voll alter, nicht zusammenpassender Stühle, war leer, jedenfalls fast. Snape saß in einem niedrigen Sessel. Er blickte auf, als einer nach dem andern hereinkam. Seine Augen glitzerten und um seinen Mund spielte ein Grinsen. Als Lupin schließlich als letzter eintrat und die Tür hinter sich schließen wollte, sagte Snape:
„Lassen Sie auf, Lupin. Das möchte ich lieber nicht mit ansehen."
Er erhob sich und schritt mit wehendem schwarzem Umhang an der Klasse vorbei. An der Tür drehte er sich auf den Fersen um und sagte:
„Vermutlich hat keiner Sie gewarnt, Lupin, aber in dieser Klasse ist Neville Longbottom. Ich kann Ihnen nur raten, ihm nichts Schwieriges aufzugeben. Außer wenn Miss Granger ihm Anweisungen ins Ohr zischt."
Ich biss mir auf die Lippe während Neville scharlachrot anlief und Harry Snape zornig ansah.
Lupin zog die Augenbrauen hoch.
„Ich hatte gehofft, Neville würde mir beim ersten Schritt des Unternehmens behilflich sein", sagte er lässig. „Ich bin mir sicher, er wird es auf bewundernswerte Weise schaffen."
Nevilles Gesicht lief, soweit dies möglich war, noch röter an. Snapes Lippen kräuselten sich, doch er ging, mit einem Blick zu mir, schweigend hinaus und schlug die Tür zu. Ich sah stirnrunzelnd auf die geschlossene Tür.
„Nun denn", sagte Professor Lupin und winkte uns zum anderen Ende des Zimmers, wo nichts war außer einem alten Schrank, in dem die Lehrer ihre Ersatzumhänge aufbewahrten und in dem Harry, Ron und ich uns letztes Schuljahr versteckt hatten. Als Lupin vor den Schrank trat fing er plötzlich an heftig zu ruckeln und krachte gegen die Wand.
„Ist das ein Irrwicht?", fragte ich und sah zu dem wackelnden Schrank.
„Es gibt keinen Grund zur Beunruhigung", sagte Lupin und trat einen Schritt nach vorne. „Lucy hat vollkommen Recht. In diesem Schank ist ein Irrwicht."
Die meisten schienen nicht recht glauben zu wollen, dass dies wirklich kein Grund zur Beunruhigung sei. Neville warf Professor Lupin einen grauenerfüllten Blick zu und Seamus starrte wie gebannt auf den ruckelnden Türknopf.
„Irrwichte mögen dunkle, enge Räume", erklärte Lupin uns. „Schränke, den Spalt unter Betten, die Schränke unter Spülen, ich hab sogar mal einen getroffen der es sich in einer Standuhr gemütlich gemacht hatte. Dieser hier ist gestern Nachmittag eingezogen, und ich habe den Schulleiter gefragt, ob die Kollegen ihn meiner dritten Klasse zum Üben überlassen könnten. Nun, die erste Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Was ist ein Irrwicht?"
Hermine und ich hoben beide die Hand. Lupin nickte mir zu.
„Ein Irrwicht ist ein Gestaltwandler", antwortete ich. „Er kann die Gestalt dessen annehmen, wovor wir am meisten Angst haben."
„Korrekt!", sagte Lupin. „Der Irrwicht sitzt also in der Dunkelheit herum und hat noch keine Gestalt angenommen. Er weiß noch nicht, was der Person auf der anderen Seite der Tür Angst macht. Keiner weiß, wie ein Irrwicht aussieht, wenn er allein ist, doch wenn wir ihn herauslassen, wird er sich sofort in das verwandeln, was wir am meisten fürchten.
Und das heißt", fuhr Professor Lupin fort, ohne Nevilles leises entsetztes Keuchen zu beachten, „dass wir von Anfang an gewaltig im Vorteil sind. Kannst du dir denken, warum, Harry?"
„Weil wir so viele sind und er nicht weiß, welche Gestalt er annehmen soll?", antwortete Harry mehr fragend doch Lupin nickte.
„Ganz genau", sagte er. „Man sollte nie allein sein, wenn man es mit einem Irrwicht aufnehmen will. Das bringt ihn durcheinander. Der Zauber, der einen Irrwicht vertreibt, ist einfach, aber er verlangt geistige Anstrengung. Was einem Irrwicht wirklich den Garaus macht, ist nämlich Gelächter. Ihr müsst versuchen ihn zu zwingen, eine Gestalt anzunehmen, die ihr komisch findet. Die Zauberformel ist ‚Riddikulus'! Sprecht es mir einmal nach!"
„Riddikulus!", sagte wir wie aus einem Mund.
„Gut", lobte Professor Lupin. „Sehr gut. Aber das war leider nur der leichte Teil. Denn das Wort allein genügt nicht. Und jetzt bist du dran, Neville."
Der Schrank fing wieder an zu zittern, allerdings nicht so heftig wie Neville, der einige Schritte vortrat.
„Also Neville, das Wichtigste zuerst. Was, würdest du sagen, ist es, das dir am meisten auf der Welt Angst macht?"
„Professor Snape", antwortete er leise.
Fast alle lachten. Selbst Neville grinste peinlich verlegen. Lupin jedoch war nachdenklich geworden.
„Professor Snape.... Neville, stimmt es, dass du bei deiner Großmutter lebst?"
„Ähm... ja", antwortete Neville nervös. „Aber ich will nicht, dass der Irrwicht sich in sie verwandelt."
„Nein, nein, du verstehst mich falsch", sagte Lupin schnell und lächelte jetzt. „Könntest du uns sagen, was für Kleider deine Großmutter normalerweise trägt?"
„Na ja... immer denselben Hut. Einen hohen mit einem ausgestopften Geier drauf."
„Sehr schön", sagte Professor Lupin. „Kannst du dir ihre Kleidung ganz genau vorstellen?"
„Ja", sagte Neville unsicher.
„Wenn der Irrwicht aus diesem Schrank fährt und dich sieht, Neville, wird er die Gestalt von Professor Snape annehmen und dann wirst du...", meinte Lupin, trat näher an Neville heran und flüsterte ihm den Rest ins Ohr. Der Schrank zitterte noch heftiger.
„Wenn Neville es gut macht, wird der Irrwicht seine Aufmerksamkeit danach wahrscheinlich uns zuwenden, und zwar einem nach dem andern", warnte Lupin uns. „Ich möchte, dass ihr alle mal kurz überlegt, was euch am meisten Angst macht, und euch vorstellt, wie man es zwingen kann, komisch auszusehen."

Im Zimmer wurde es still. Angestrengt dachte ich nach. Wovor hatte ich am meisten Angst? Doch ich musste nicht lange überlegen als mir etwas in den Sinn kam. Eine verwesende Hand, die unter einen schwarzen Umhang zurückgleitet... ein unsichtbarer Mund, der mit lang anhaltendem Rasseln Luft einzieht... dann Kälte, so durchdringend, als ob ich ertrinken würde...
Ich erschauderte.
„Seid ihr bereit?", fragte Lupin und sah uns der Reihe nach an. Alle nickten und rollten die Ärmel hoch.
„Neville, wir gehen ein paar Schritte zurück", sagte Lupin. „Dann hast du freie Bahn, klar? Ich rufe dann den Nächsten auf ... alle zurücktreten jetzt, damit Neville richtig zielen kann."
Wir gingen zurück und lehnten uns gegen die Wand; Neville stand jetzt allein vor dem Schrank. Er sah blass und verängstigt aus, doch er hatte die Ärmel seines Umhangs hochgekrempelt und hielt seinen Zauberstab bereit.
„Ich zähle bis drei, Neville", sagte Lupin und deutete mit seinem Zauberstab auf den Türknopf des Schranks. „Eins – zwei – drei – jetzt!"
Sterne stoben aus der Spitze von Lupins Zauberstab und trafen den Türknopf. Die Schranktüren flogen auf. Hakennasig und drohend trat Professor Snape heraus und richtete seine blitzenden Augen auf Neville.
Neville wich zurück, den Zauberstab erhoben, und bewegte stumm den Mund. Snape griff in seinen Umhang und ging drohend auf ihn zu.
„R – r – riddikulus!", quiekte Neville. Es gab einen Knall, ähnlich dem Knall einer Peitsche. Snape stolperte; er trug jetzt ein langes, spitzenbesetztes Kleid, einen turmhohen Hut, auf dessen Spitze ein mottenzerfressener Geier saß, und an seinem Handgelenk schlenkerte eine enorme rote Handtasche. Dröhnendes Gelächter brach aus, auch ich konnte mich nicht zurück halten, der Irrwicht erstarrte, heillos verwirrt, und Lupin rief:
„Parvati! Du bist dran!"
Parvati trat mit entschlossener Miene nach vorne. Drohend wandte sich Snape ihr zu. Wieder knallte es, und wo er gestanden hatte, erschien eine blutbefleckte, bandagierte Mumie; ihr augenloses Antlitz Parvati zugewandt, begann sie träge schlurfend auf das Mädchen zuzugehen und hob die Arme.
„Riddikulus!", schrie Parvati.
Am Fuß der Mumie löste sich eine Bandage; die Mumie verhedderte sich und fiel mit dem Gesicht auf den Boden; der Kopf rollte davon. Knall! Eine Todesfee erschien die ihre Stimme verloren hatte.
Knall! Die Todesfee verwandelte sich in eine Ratte, die im Kreis herumrasend ihrem eigenen Schwanz nachjagte, und dann verwandelte sie sich in eine Klapperschlange, die sich wand und kringelte, bis sie zu einem blutigen Augapfel wurde.
„Er ist durcheinander!", rief Lupin. „Bald haben wir's geschafft! Dean!"
Dean trat rasch nach vorne. Krach! Der Augapfel wurde zu einer abgeschnittenen Hand, wie ein Krebs kroch sie über den Boden.
„Riddikulus!", rief Dean. Es gab ein schnappendes Geräusch und die Hand war in einer Mausefalle gefangen.
„Glänzend! Ron, du bist dran!"
Ron stürzte nach vorne. Knall! Nicht wenige schrien. Eine riesige Spinne, zwei Meter hoch und haarig, krabbelte auf Ron zu und klickte bedrohlich mit ihren Greifzangen. Irgendwie erinnerte sie mich ein wenig an Aragog.
„Riddikulus!", bellte Ron und die Beine der Spinne verschwanden; sie kullerte über den Boden; Lavender Brown kreischte und lief aus dem Weg und die Spinne blieb vor Harrys Füßen liegen. Schon hob er seinen Zauberstab, ich sah aufmerksam zu ihm doch...
„Halt!", rief Professor Lupin plötzlich und sprang vor. Knall! Die beinlose Spinne war verschwunden und an ihrer Stelle hing ein Silber schimmernder Mond in der Luft umhüllt von ein paar Wolken.
„Riddikulus!", sagte er fast lässig. Knall! Der Irrwicht landete als Kakerlak auf dem Boden.
„Los Neville, mach ihn alle!", sagte Lupin. Knall! Snape war wieder da. Diesmal stürzte Neville mit entschlossener Miene auf ihn zu.
„Riddikulus!", rief er und für den Bruchteil einer Sekunde sahen wir Snape noch einmal im Spitzenkleid, bis der Irrwicht explodierte, in tausend kleine Rauchwölkchen auseinanderstob und verschwand.
„Hervorragend!", rief Lupin, und die Klasse fing begeistert an zu klatschen. „Sehr schön, Neville. Ihr alle habt eure Sache sehr gut gemacht... lasst mich kurz überlegen... fünf Punkte für Gryffindor bekommt jeder, der es mit dem Irrwicht aufgenommen hat, zehn für Neville, weil er zweimal dran war... und jeweils fünf für Lucy und Harry. Ihr wart alle sehr gut, es war eine hervorragende Stunde. Als Hausaufgabe lest bitte das Kapitel über Irrwichte und schreibt mir eine Zusammenfassung... bis nächsten Montag. Das ist alles."
Stirnrunzelnd verließ ich mit den anderen das Lehrerzimmer.

Licht oder Dunkelheit - Die Geschichte der Potter Zwillinge #3Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt