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Er war kein Fan von Mittwochen.

Eigentlich mochte er keinen Wochentag so richtig. Früher, als Kind, hatte er Freitage und Samstage gemocht. Nicht so sehr den Sonntag, weil der immer der letzte Tag vor der neuen Schulwoche gewesen war, aber es hatte Tage gegeben, die er gemocht hatte. Auf die er sich gefreut hatte.

Jetzt war jeder Tag mühsam und die Mittwoche ganz besonders. Jeden Mittwoch musste seine Mutter ins Krankenhaus, und jeden Mittwoch stritt er mit ihr, ob er sie fahren sollte oder sie sich ein Taxi nehmen würde, und jeden Mittwoch gewann er den Streit und fuhr sie doch ins Krankenhaus, und jeden Mittwoch wünschte er sich, dass sie sturer sein und das Taxi nehmen würde.

Die Ärzte rieten seiner Mutter bereits seit Wochen dazu, eine stationäre Aufnahme anzufordern, aber sie wehrte sich vehement dagegen. Natürlich, dachte er. Er fände den Gedanken auch schrecklich, zu sterben und in einem Krankenhaus stationär aufgenommen zu werden, ohne zu wissen wann und ob er je wieder sein Zuhause sehen würde. Ob er je wieder den Geruch des Holzes und der Farbe, weil er und Katy vor einer Woche das Vorzimmer neu gestrichen hatten, riechen würde. Wie schrecklich die Erkenntnis wäre, nie wieder den kleinen Vorgarten sehen zu können, in dem seine Mom, sein Dad, John, Katy und er letzten Sommer ein Loch in der Größe eines Doppelbettes ausgehoben, mit Plastikfolie ausgelegt und Wasser hineingefüllt hatten. Sie hatten Seerosen und Schilf ins Wasser und an den Rand gepflanzt, kleine Steingebilde in den Teich gelassen und Fische gekauft, die immer noch fröhlich darin herum schwammen. Er war überrascht, dass sie den Winter überlebt hatten.

Aber einmal im Krankenhaus eingeliefert, würde seine Mom nicht mehr herauskommen, zumindest nicht lebend, und diese Angst verstand er sehr gut. Er würde auch lieber in seinem eigenen Bett oder auf der Couch für immer die Augen schließen, in seinem Haus, an einem Ort, an dem er sein Leben verbracht und unvergessliche Erinnerungen geschaffen hatte, als in einem weißen, sterilen, kalten Zimmer mit piepsenden Maschinen, fremden Menschen und dem Geruch nach Desinfektionsmittel.

Sterben war scheiße.

Und noch schlimmer war, zu wissen, wann man sterben würde.

Er fand, dass es mit jedem Tag anstrengender und ermüdender wurde, sich rund um die Uhr um seine sterbende Mutter kümmern zu müssen und nebenbei für Katy zu sorgen und für die Uni zu lernen. Die Wahrheit war, dass es ihm viel Arbeit abgenommen hätte, wenn sie dauerhaft im Krankenhaus geblieben wäre, und ein klitzekleiner Teil von ihm wartete ungeduldig auf den Tag, an dem es endlich so weit sein würde. Dann wäre bald alles vorbei. Der schlimmste Teil wäre überstanden und er würde nur noch mit den Schäden des unerbittlichen Kampfes klarkommen und alles wieder aufbauen müssen, aber das war leichter, als jeden Tag diesem unerbittlichen Krieg gegenüberzutreten, den er nicht gewinnen konnte. Er konnte ihn nur ertragen.

Aber das hätte er seiner Mutter nie gesagt. Nie hätte er ihr gestanden, was für eine Last sie war, und dass er es selbstsüchtig und ungerecht fand, dass sie sich lieber ihm aufbürdete als einer Krankenschwester. Er war durchaus dankbar für jede Minute, die er noch mit ihr hatte. Und doch musste er sich diese Dankbarkeit an den ganz schlimmen Tagen aufzwingen (an Tagen, an denen sie sich wehrte, ihre Medikamente zu nehmen, weil sie nur noch sterben wollte; an Tagen, an denen die trockene und rissige Haut an ihren Beinen aufsprang, weil sie wegen der Medikamente schlimme Wassereinlagerungen bekommen hatte; an Tagen, an denen sie alles erbrach, was sie aß und so müde war, dass sie es nicht einmal bis ins Badezimmer geschafft hatte und er das Bett neu beziehen musste; an Tagen, an denen sie nicht mehr die Mutter war, die er einst gekannt hatte), weil er zu wenig Schlaf bekam, seine schulischen Leistungen weitaus besser hätten sein können und zu viele Sorgen, Ängste und schlicht grauenhafte Gedanken in seinem Kopf herumspukten. Gedanken daran, wie sie sterben würde. Ob sie zu viele Schlaftabletten nehmen würde, wenn Katy bei ihrem Vater und John war, und er selbst an der Uni. Ob sie die Kraft in ihren Beinen verlassen und sie die Treppen hinunterfallen würde. Ob sie im Krankenhaus an Schläuchen hängend und nach Luft schnappend und röchelnd sterben würde.

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