Lionels Eltern waren nicht zu Hause und sie hatte beschlossen, den letzten Tag der Ferien nicht damit zu verbringen, Hannah willkommen zu heißen und sich ihr Geheule darüber anzuhören, dass sie und Jason wieder getrennt waren. Davon bekam sie nur schlechte Laune. Hannah hatte eine ganze Woche in New York verbringen dürfen und besaß trotzdem die Frechheit, sich zu beschweren, dass sie nun wieder in Alaska saß.
Julia hatte ihren Hausarrest nicht direkt aufgehoben, aber sie hatte behauptet, dass Lionel auf seinen kleinen Bruder aufpassen musste und für die Mathenachhilfe nicht von zu Hause wegkonnte. Er hatte ihres Wissens nach zwar keinen kleinen Bruder, aber das konnte Julia ja nicht wissen, die vermutlich gerade in der Küche stand und ein Willkommen zurück Abendessen kochte.
Lionel hatte ihr die schlechte Laune in der Sekunde angemerkt, in der sie seine Wohnung betreten hatte, sie aber nicht darauf angesprochen. Keiner von beiden hatte an diesem Tag große Lust darauf zu lernen, besonders, weil morgen die Schule ohnehin wieder anfangen würde. Das alleine bescherte ihr einen fetten Knoten im Magen.
Wegen Rebeca und Mr. Teakin und einfach allem anderen drum herum.
„Wir könnten uns morgen nach der Schule treffen", schlug er vor, aber sie schüttelte den Kopf.
„Hab schon was vor." Sie musste nach Anchorage, um ein paar Schulden bei Dr. Hale zu begleichen. Sie hatte genug Geld beisammen, um nicht völlig armselig zu wirken, sollte sie tatsächlich bei Dr. Hale auf der Matte stehen. Außerdem brauchte sie neue Schmerzmittel. Vor zwei Tagen hatte sie kaum ihr Bett verlassen können und sich mit den letzten beiden Tabletten und mit einer fragwürdigen Pille von Justin niedergedröhnt, bis sie nicht einmal mehr gespürt hätte, wenn ein Magier sie in einer Box zersägt und dabei den Trick hinter der Sache vergessen hätte. Außerdem hatte Justin sie letztens gefragt, ob sie bald wieder nach Anchorage kommen würde, damit sie zusammen sprayen konnten. Und da Julia morgen Nachmittag einen Arzttermin hatte, würde sie nicht merken, dass sie erst abends wieder zurück sein würde. Und selbst wenn, sie konnte ihr nicht ständig verbieten, das Haus nicht zu verlassen, das war nicht fair!
Sie hatte den Kopf auf die Tischplatte in der Küche gelegt und sah müde aus dem Fenster. Es regnete und die Tropfen prallten unverschämt laut gegen die Scheibe. Sie verlagerte ihr Gewicht auf das Kinn und sah zu Lionel auf, der ihr gegenüber saß.
„Du machst dir Sorgen wegen der Schule morgen, oder?", fragte er, schob seinen Stuhl zurück und legte ebenfalls sein Kinn auf den Küchentisch. Er spiegelte gerne ihre Körperhaltung.
„Warum glaubst du das?"
„Weil du die Augenbrauen zusammenziehst."
„Das ist mein normaler Gesichtsausdruck."
Er lächelte. „Gar nicht wahr."
Sie richtete ihren Blick wieder aus dem Fenster. Die Wasserschlieren ließen den Garten zu einem abstrakten Bild von zerlaufenden Farben werden.
„Ich würde da am liebsten morgen gar nicht hin gehen", sagte sie. „Nie, nie wieder."
„Das kann ich verstehen. Aber wir müssen hingehen, damit wir irgendwann nicht mehr hinmüssen."
Das verstand sie, aber Lionel wusste nicht, was es für sie bedeutete, morgen wieder in die Schule zu gehen. Es würde das erste Mal sein, seit der Sache mit Rebeca. Seit ihrem Schulverweis. Seit Mrs. Rampling sie und Mr. Teakin in dem Klassenraum vorgefunden hatte. Das alleine raubte ihr seit ein paar Tagen den Schlaf. Lieber wäre sie an eine ganz neue Schule mit völlig neuen Schülern gekommen, als morgen an diese Höllenschule zu gehen.
„Was machen wir denn nun mit dem angebrochenen Tag?", maulte sie und Lionel lachte.
„Ich hatte keine Pläne. Dann bist du vor der Türe aufgetaucht. Ich dachte, du hättest eine Idee."
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The Edge of Life
Teen Fiction„Wir sind alle nur traurige Menschen mit glücklichen Gesichtern." Die Geschichte vier junger Menschen.