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„Sie sind nicht so, wie ich mir eine Psychologin vorstelle."

„Ich bin ja auch eine Psychiaterin."

„Alles das gleiche."

Dr. Perez verschränkte die Finger ineinander. „Psychologen sind Wissenschaftler. Sie haben Psychologie studiert und befassen sich mit dem Lernen und dem Verhalten des Menschen. Psychiater haben ein Medizinstudium sowie eine entsprechende Facharztausbildung abgeschlossen. Wir sind Ärzte, dürfen Patienten behandeln und Medikamente verschreiben. Ich arbeite seit über fünfunddreißig Jahren als Psychiaterin, habe hier meine eigene Praxis und bin drei Mal die Woche im Krankenhaus angestellt."

„Und Sie sind genauso eine Klugscheißerin wie meine Schwester."

„Ich glaube, du solltest dir öfter selbst zuhören", schmunzelte Dr. Perez. „Du kannst selbst ganz schön klugscheißern, wenn du willst. Ein Psychologe könnte dir jedenfalls kein Lithium verschreiben."

„Von mir aus." Sie zuckte mit den Schultern. Dr. Perez hatte ihr noch kein Lithium verschrieben. Sie hatte ihr noch gar nichts verschrieben. „Sie sind trotzdem so anders. Die Leute, die ich kenne, würden bei den Dingen ausrasten, die ich Ihnen erzähle."

Sie hatte Dr. Perez eben geschildert, wie ihre Mutter sie unter Drogen gesetzt hatte, als sie zehn Jahre alt gewesen war, sie davon gelaufen und Justin zum ersten Mal begegnet war. Dabei wusste sie gar nicht recht, warum sie davon erzählt hatte. Sie hatte eigentlich keinen guten Tag. Sie war die ganze Zeit schon schlecht gelaunt und hatte das Gefühl, ihre Zündschnur hinge an Dynamit. Ein falsches Wort und sie sah ihre kläglichen Überreste schon an der Wand kleben.

„Ich bin schon sehr lange in diesem Beruf", lächelte Dr. Perez. „Es gibt nicht viele Dinge, die du mir erzählen könntest, die mich aus der Fassung bringen würden."

„Warum wollen Sie es dann hören?", fragte sie und Dr. Perez schmunzelte wieder. „Nein, ehrlich. Wo ist der Spaß an der Sache, wenn Ihnen keiner mehr etwas erzählen kann, das Sie schockiert?"

„Nur, weil ich nicht schockiert aussehe, heißt das nicht, dass ich völlig unberührt bin. Ich versuche nur, mich auf dich abzustimmen und du scheinst mir nicht wie jemand, der möchte, dass ich betone, wie schrecklich das alles ist und wie leid es mir tut." Das nicht unbedingt, aber es ärgerte sie trotzdem ein bisschen, dass Dr. Perez so ganz und gar unbekümmert schien. Kein Mensch war von den Dingen, die sie erlebt hatte, unbekümmert. Kein Mensch fand, dass die Dinge, die sie zu erzählen hatten, einfach so mit einem Nicken zu akzeptieren waren. Ihre eigene Mutter hatte sie unter Drogen gesetzt, als sie zehn Jahre alt gewesen war, verdammt!

Dr. Perez sah ihr an der Nasenspitze an, wie sehr es sie wurmte, wie gelassen sie immer noch war. „Du bist es nicht gewöhnt, dass Leute darauf nicht reagieren. Ich denke, du provozierst andere gerne, kann das sein?"

Sie zuckte mit den Schultern und richtete den Blick aus dem Fenster.

„Ich kann mir gut vorstellen, dass es mit einer bipolaren Mutter und einer hochambitionierten Schwester die einzige Möglichkeit war, überhaupt aufzufallen und Aufmerksamkeit zu bekommen."

„Ich will keine Aufmerksamkeit."

„Jeder Mensch möchte Aufmerksamkeit von jemandem. Natürlich nicht von jedem. Aber von jemandem. Es gibt immer jemanden, von dem wir bemerkt werden wollen. Hast du Angst, dass die Leute dich vergessen, wenn du keine skandalösen Sachen vorzuweisen hast? Dass sie dich nicht beachten? Findest du, dass es sonst nichts Interessantes an dir gibt?"

Sie stieß verächtlich den Atem aus. „Blödsinn."

Aber Dr. Perez wühlte so vieles in ihr auf, dass sie seit zwei Wochen ihre komplette Existenz und alles, was sie je über sich und andere zu wissen geglaubt hatte, in Frage stellte. Dabei wollte sie das gar nicht. Sie wollte nicht, dass die Realität, in der sie sich jahrelang sicher gefühlt hatte, weil sie sie zu verstehen geglaubt hatte, nun umgekrempelt wurde.

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