Dana durfte sich ihm, und besonders seiner Wohnung, nicht mehr nähern.
Er glaubte zwar nicht, dass sie es noch versuchen würde, aber er war dennoch froh über die Nachricht. Andres hatte ihm erzählt, dass Dana kein Wort mehr über ihn verloren hatte, seit er bei ihr zu Hause aufgekreuzt war.
Trotzdem war er noch nicht bereit, nach New York zurückzufliegen. Oder Andres zu bitten, ein paar Stränge in der Personalabteilung zu ziehen, damit er wieder eingestellt werden würde, er war sich nicht sicher, ob er das überhaupt wollte.
Er brauchte eine Pause von seiner Arbeit.
Im Augenblick zahlte seine Mom die Monatsmieten für seine Wohnung.
Er wusste gar nicht mehr, was er mit seinem Leben eigentlich anfangen sollte. So viel war passiert, so viel war kaputt gegangen.
Seit fast einem Monat war er jetzt wieder in Palmer bei seiner Familie und es tat ihm unheimlich gut. Er flog jedes Wochenende privat mit Kody über die Landschaft und er hatte sogar Hannah überredet, einmal mitzukommen, aber es hatte sich noch nicht ergeben. Er fand es wundervoll, in ihrer Nähe zu sein und nicht am anderen Ende des Kontinents. Er konnte sie jederzeit sehen und jetzt, da sie und Mia sich einigermaßen wieder versöhnt hatten, kam sie ihn öfter bei sich zu Hause besuchen.
Er klopfte an den Türrahmen von Gramps Zimmer und trat ein.
„Guten Mittag", lächelte er ihn an. „Ich hab was für dich." Er schloss die Türe hinter sich und stellte den Käfig, über dem ein dunkles Tuch lag, auf dem Tisch ab. „Du darfst noch raten, was es ist", witzelte er.
Der Kopf seines Gramps zuckte hin und her und er nickte. „Schön, ich spann dich nicht länger auf die Folter."
Er zog das Tuch ab und zwei Wellensittiche kamen zum Vorschein. Er öffnete das Gittertürchen und die Vögel hüpften auf den Tisch. Er setzte sich zu seinem Gramps, der den Blick nicht mehr von den Vögeln nahm und erzählte ihm von seinem Tag. Viel war nicht passiert, aber er hatte ihm auch die letzten Male nicht viel zu berichten gehabt. Er besuchte ihn oft, seit er hier war. Fast jeden zweiten Tag. Kody hatte ihn einmal begleitet, was ihn überrascht hatte, denn seit er ihm erzählt hatte, dass Izzy glaubte, Bonnie könne ihn betrügen, war er kaum noch auf Besuch gekommen und wenn er zu seiner Wohnung gefahren war, hatte Kody nicht gut ausgesehen. Es war fast schon grausame Ironie des Schicksals, dass die erste Frau, die Kody wirklich geliebt hatte, ihn betrogen hatte.
Mia war auch zwei Mal zu Gramps mitgekommen und einmal hatte er ihm Hannah vorgestellt. Er glaubte, dass sein Gramps Hannah mochte. Wie hätte man sie auch nicht mögen können?
Das letzte Mal hatte er alles mitgebracht, was die Vögel zum Leben hier brauchten.
„Ich kann dir ja noch eine Katze dazukaufen", meinte er, als die Vögel begannen, das Zimmer zu erkunden. „Dann wird keinem hier langweilig."
Er glaubte, dass sein Gramps lachte.
Heute musste er sich eher wieder verabschieden, weil er noch mit Hannah verabredet war. Es hatte zweiundzwanzig Grad draußen und hier, in Palmer, war das praktisch schon Hochsommer. Er war diese arktischen Temperaturen nicht mehr gewöhnt und brauchte draußen noch einen Pullover, aber Hannah lief ihm problemlos in einem Sommerkleid entgegen.
Er kaufte ihnen beiden ein Vanilleeis und sie setzten sich in den Park in die Sonne. „Izzy wird der Schlag treffen", nuschelte sie.
„In Kalifornien?"
Sie nickte. „Sie hält doch kaum die Temperaturen hier aus, was will sie bloß am Strand?"
„Wann fliegt sie weg?"
„Vier Tage nach ihrem Geburtstag, also in..." Sie kniff die Augen zusammen und rechnete. „Sieben Wochen."
„Da hat sie ja noch massenhaft Zeit, es sich anders zu überlegen."
Hannah lachte. „Glaub ich nicht. Lionel hat sie sich um den kleinen Finger gewickelt. Ich wüsste gerne, wie er das geschafft hat."
„Ich finde, wir sollen auch gemeinsam in den Urlaub fliegen", sagte er verschwörerisch und sie lächelte.
„Ja, das finde ich auch."
Eine Weile aßen sie ihr Eis schweigend und er genoss die Sonnenstrahlen auf seiner Haut. „Kann ich dich was fragen?"
Sie sah ihn an. „Ägypten."
Er lachte. „Nein, darum geht es nicht."
„Worum dann?"
Er war fertig mit seinem Eis und nahm ihre Hand in seine. „Du hast mir Mal erzählt, dass du... wieder aufs Eis könntest." Ihr Blick fror ein und sie wandte den Blick ab. „Mit der richtigen Therapie."
„Wo kommt das auf einmal her?" Sie zog ihre Hand aus seiner, aber er griff wieder danach.
„Nein, hör mir zu. Das hast du doch gesagt, oder?"
„Vielleicht. Und?"
„Warum willst du es nicht versuchen?"
„Weil ich nie, nie wieder so gut sein werde, wie davor."
„Woher weißt du das?", fragte er beharrlich.
„Mein Arzt hat es mir gesagt."
„Ärzte haben nicht immer recht."
„Was denn, nur weil deiner nicht weiß, ob du Huntington kriegst oder nicht, weiß auch meiner nicht, wovon er redet?", fauchte sie und ruderte im selben Atemzug zurück. „Tut mir leid, so meinte ich das nicht."
„Ich weiß." Ihm war bewusst gewesen, dass er mit diesem Thema einen wunden Punkt treffen würde, rückte näher an sie heran und legte einen Arm um ihre Schultern. Er hatte viel darüber nachdenken müssen.
„Du musst ja nicht wieder zurück in den Eiskunstlauf. Du musst nicht mehr so gut sein, wie davor. Das verlangt doch keiner. Aber vermisst du es nicht? Kein bisschen?"
„Natürlich vermisse ich es." In ihren Augen stand Verzweiflung. „Ich vermisse es so sehr, wie du das Fliegen vermissen würdest, wenn man es dir wegnehmen würde."
„Dann geh zu deinem Arzt. Frag ihn, was du tun musst, damit du das Eis wieder betreten kannst."
Sie schwieg sehr lange und betrachtete zwei Kinder, die lachend Fangen spielten. „Ich habe Angst", gab sie dann leise zu. „Wenn ich aufs Eis gehe, könnte ich mich wieder verletzen."
„Und wenn ich in ein Flugzeug steige, könnte es abstürzen." Sie rollte mit den Augen. „Du musst nicht wieder mit einem Partner laufen, Hannah. Beide Unfälle sind passiert, als du mit Cole gelaufen bist, aber das musst du nie wieder tun. Vielleicht bist du allein einfach besser dran."
Er hätte es so gerne gesehen. Er hätte so gerne gesehen, wie sie aussah, wenn sie über das Eis glitt. Er wollte sehen, wie frei sie sich fühlte. Er wollte, dass sie ihn einmal mit aufs Eis nahm, so wie er sie mit zum Fliegen nehmen wollte.
Sie drehte ihr Gesicht zu ihm und ihre Nasenspitzen berührten einander. „Warum ist dir das so wichtig?", wisperte sie.
„Weil ich will, dass du glücklich bist. Ich will, dass du versuchst, glücklich zu sein. Das ist meine Revanche dafür, dass du dir mein Testergebnis angesehen hast." Sie stieß amüsiert den Atem aus. „Und deine Chancen liegen bestimmt bei mehr als fünfzig Prozent."
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The Edge of Life
Roman pour Adolescents„Wir sind alle nur traurige Menschen mit glücklichen Gesichtern." Die Geschichte vier junger Menschen.