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„Das war doch keine feste Regel", protestierte sie. „Höchstens eine grobe Richtlinie."

Dass sie Jason so bald wieder sehen würde, hätte sie nicht gedacht, aber sie beschwerte sich nicht darüber, dass ihr das Schicksal so wunderbar in die Hände spielte. Sie fand, dass sie es verdient hatte, ein bisschen Glück zu haben und ein bisschen glücklich zu sein.

„Wir haben abgemacht, dass wir bis zu deinem Geburtstag warten", erwiderte er und sie küsste ihn wieder.

„Gar nicht wahr. Du hast das gesagt. Ich hab nicht mal zugestimmt."

Er lächelte und küsste sie zurück. Sie saß rittlings auf seinem Schoß, die Finger in seinen Haaren vergraben, während seine Hände auf ihren Hüften ruhten.

„Weißt du, das nächste Mal, wenn ich hier lande, halte ich einfach meinen Mund und du wirst nicht erfahren, dass ich hier bin."

„Hast du deine Eltern besucht?", fragte sie nun, weil die beiden, seit sie sein Hotelzimmer betreten hatte, nicht sonderlich viel miteinander geredet hatten. Und während sie die ganze Zeit zwei Schritte nach vorne tat, macht er einen zurück, aber damit war sie immer noch schneller als er, und wenn sie hartnäckig blieb, sich vielleicht das T-Shirt auszog, würde er diese dämliche Geburtstagsregel vergessen. Sie fand, dass es an der Zeit war, ihr Glück ein bisschen überzustrapazieren.

Er nickte und sie rückte ein klein wenig von ihm ab. „Wie geht es deinem Dad?", fragte sie weiter. Jason war schon seit gestern hier, aber sie hatte in die Schule gemusst und war somit erst heute nach Schulschluss nach Anchorage in sein Hotel gefahren.

„Er hat die Kappe seines Kugelschreibers nicht wieder aufsetzen können, weil seine Hände so sehr gezittert haben. Und als meine Mom ihm helfen wollte, hat er sie angeblafft, dass er keine Hilfe bräuchte. Er verliert normalerweise nie die Geduld. Schon gar nicht bei solchen Kleinigkeiten." Sie sah, wie verletzt Jason war und fragte sich, ob der T-Shirt-auszieh-Plan immer noch erfolgreich umsetzbar war, um ihn wieder auf andere Gedanken zu bringen.

Als nach ihrer New York Reise wieder in Palmer angekommen war, hatte sie die Symptome von Chorea Huntington gegoogelt. Die Verhaltensveränderung war eines von vielen grausamen Symptomen.

Wenn sie Jason eines nachfühlen konnte, dann, wie es sich anfühlte, wenn ein Elternteil mit einem Fingerschnippen wie ausgewechselt war, nicht wieder zu erkennen und man wusste, dass eine Krankheit an allem Schuld trug, dieses Wissen jedoch nichts daran änderte, wie schrecklich es war.

„Mia ist erst einmal auf ihr Zimmer gerannt und hat zwei Stunden geheult. Und dann hat sie mir gesagt, dass sie sich Sorgen um Dad macht, weil er ihr seit ein paar Tagen immer vor dem Schlafen gehen sagt, wie sehr er sie lieb hat."

„Sie redet wieder mit dir?", hakte sie überrascht nach.

„Mir hat es auch besser gefallen, als sie es nicht getan hat", erwiderte er scherzhaft.

„Willst du nicht lieber bei deiner Familie sein?", fragte sie vorsichtig.

„Würdest du deiner Mutter bei sowas zusehen wollen?"

Die Antwort auf diese Frage war offensichtlich, sonst hätte sie sich öfter bei ihrer Mom in der Klinik blicken lassen, bevor sie so plötzlich verschwunden war. Vielleicht war sie ja genau deshalb verschwunden. Schuldgefühle zwängten sich schmerzhaft in ihren Hals und Tränen schossen ihr in die Augen, die sie schnell wegblinzelte, bevor Jason sie bemerken konnte.

„Hey, was ist eigentlich mit dem Testergebnis?", fragte sie.

Er sah sie stumm an und sie schnappte nach Luft. „Es ist angekommen? Hast du hineingesehen?"

The Edge of LifeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt