Endlich war wieder ein wenig Ruhe eingekehrt. Die letzten Tage und Wochen hatten an seinen Nerven gezerrt, weil es Hannah so schlecht gegangen war, weil es Izzy so schlecht gegangen war, aber seit ein paar Tagen war Izzy wieder zu Hause, Hannah hatte sich beruhigt und er konnte wieder durchschlafen, weil sie ihn nicht mehr zu den unmöglichsten Zeiten anrief.
Er war nicht wütend darüber gewesen, aber bei seiner Arbeit war es ohnehin schon schwierig, genug Schlaf abzubekommen. Manchmal hatte sie ihn mit ihren Anrufen geweckt, aber er hatte sie nie ignoriert.
Andres hatte ihn vor ein paar Tagen gefragt, warum er Hannah überhaupt so gerne hatte. Er hatte die Antwort gekannt, sie gespürt, aber nicht gewusst, wie er es hätte erklären sollen. Es gab eine Sache an ihr, die er -abgesehen von allen anderen Dingen, die Hannah zu Hannah machten- so sehr bewunderte, dass er glaubte, dass man sie nur lieben konnte.
Als sie ihn in New York besucht hatte, hatte Hannah einmal den Aufzug für eine ältere Dame aufgehalten, die das Treppenhaus mit einer Einkaufstasche betreten und sich sichtlich abgemüht hatte. Sie war ohne zu Zögern aus dem Aufzug gesprungen, zu der Dame gelaufen und hatte gefragt: „Darf ich Ihnen helfen?"
Die Dame hatte gelächelt. „Oh, das ist aber nett." Im Schritttempo der Seniorin war sie mit ihr und den Einkäufen zurück zum Aufzug geschlurft.
„Welches Stockwerk?"
„Das vierte."
Sie hatte den Knopf für das vierte Stockwerk gedrückt. „Soll ich Ihnen die Einkäufe noch zur Türe bringen?"
„Ich will keine Umstände machen."
„Das macht es nicht. Wirklich." Hannah hatte in diesem Moment eine so große Bereitwilligkeit zur Hilfe gezeigt, dass er geglaubt hatte, sie wäre enttäuscht gewesen, wenn die Dame erneut abgelehnt hätte. Und vielleicht hatte die weißhaarige Frau das gemerkt, denn sie hatte genickt.
„Vielen Dank."
Hannah hatte ihr die Einkäufe also noch bis zur Türe getragen und die Frau hatte sie vielmals bei ihr bedankt.
„Das hab ich sehr gerne gemacht", hatte Hannah gestrahlt.
Er glaubte, dass er noch nie einem Menschen begegnet war, der so selbstverständlich, so voller Nächstenliebe bereit war, anderen Menschen zu helfen. Ob es nun darum ging, einer Seniorin ihre Einkäufe zur Wohnungstüre zu tragen, oder ob sie zwei Wochen lang von der Schule fernblieb, die ihr so wichtig war, um ihre Schwester die ganzen Tage über sehen zu können, obwohl die kaum ein Wort mit ihr gesprochen hatte.
Er wünschte, er hätte sich davon eine Scheibe abschneiden können, aber er fand, dass man in manchen Situationen egoistisch sein musste, um im Leben weiterzukommen.
Aber diese Ansicht hätte Hannah nie mit ihm geteilt.
Hätte er öfter zurückgesteckt, hätte Dana ihn nie betrogen und Mia wäre nicht so lange sauer auf ihn gewesen, nur weil er sich in Hannah verliebt hatte. Und vielleicht hätte er auch seinen Eltern einen Gefallen getan und hätte sich das Testergebnis endlich angesehen.
Aber er wollte sich selbst immer treu bleiben und das klappte nicht, wenn man andere Menschen an erste Stelle stellte. Natürlich war es für andere ein echter Gewinn, einen zwanghaften Zufriedensteller in der Familie und im Freundeskreis zu haben. Aber so sehr er es auch bewunderte und liebte, dass Hannah so viel von sich gab, so hatte er gleichzeitig Angst, dass ihr genau das irgendwann zum Verhängnis werden würde. Dass eben diese wundervolle Eigenschaft an ihr, die er nicht missen wollte und die so viele Menschen egoistischer Weise an ihr liebten und wertschätzten, sie irgendwann zerstören würde, wenn sie nicht aufpasste.
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The Edge of Life
Teen Fiction„Wir sind alle nur traurige Menschen mit glücklichen Gesichtern." Die Geschichte vier junger Menschen.