Sie hatte einmal von einem asiatischen Glauben gehört, der besagte, dass man in seinem jetzigen Leben das Gesicht jener Person trug, die man in seinem vorherigen Leben geliebt hatte. Damals hatte ihr dieser Gedanke gefallen, eine Zeit lang hatte sie sogar daran glauben können und war durch die Welt gelaufen, als wäre ihr Gesicht das schönste, das sie überhaupt hätte haben können. Sie hatte es schön gefunden, es musste schön gewesen sein, wenn sie sich einst in dieses Gesicht verliebt hatte.
„Du hattest einen guten Geschmack, in deinem früheren Leben", hatte Clayton damals zu ihr gesagt und sie geküsst. Natürlich hatte er das nur zu ihr gesagt, damit sie sich wieder für ihn auszog, aber das war ihr egal gewesen.
Für wie verrückt sie das mittlerweile empfand. Wann hatte sich ihr Denken so verändert?
Nach ihrem Eislaufunfall hatte sie ihr Gesicht nicht mehr schön gefunden, es nicht einmal mehr im Spiegel ansehen können.
Sie hätte im Auto auf dem Weg nach Hause an alles Mögliche denken können, aber sie erinnerte sich lediglich an diesen Gedanken, den sie einst gehabt hatte.
Ihr Kopf tat weh. Sie glaubte, dass sie in der letzten Stunde mehr über Izzy erfahren, als sie in den letzten fünf Jahren zu wissen geglaubt hatte. Und sie war sich unsicher, wie sie damit umgehen sollte. Stumm saß sie mit Izzys kalter Hand in ihrer da und starrte auf die Straße.
Izzy war für sie seit langem ein Rätsel gewesen. Ein Rätsel, dass sie nicht verstanden hatte und auch nicht hatte lösen können. Sie war immer so still gewesen, so blank, so aus der Welt gerissen, so desinteressiert und vor allem distanziert. Sie hatte geglaubt, das sei das Wesen ihrer Schwester gewesen. Doch wenn sie Izzy jetzt ansah, fühlte sie sich unwohl, weil sie nicht mehr wusste, wer sie war. Ob sie sich überhaupt als ihre Schwester bezeichnen konnte, wo sie doch so wenig über sie wusste. Wie sie sich ihr gegenüber jetzt verhalten sollte.
Sie linste zu ihrer kleinen Schwester hinüber. Ihre schwarzen Locken waren immer noch ihre Locken, ihre Finger immer noch ihre Finger, an denen zwei Totenkopfringe und ein Schlangenkopfring steckten, und ihre Augen waren immer noch Izzys immer traurige Augen.
Izzy trug immer noch ihre Jacke, als sie aus dem Auto ausstiegen, und sie noch einmal die Beifahrertüre öffnete und sich ins Wageninnere zu Jason lehnte, der sie besorgt musterte.
„Danke."
Er schüttelte den Kopf. „Nicht, hör auf damit. Du musst dich für gar nichts bedanken." Sie wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte. „Ich fahre zum Haus meiner Eltern, ruf mich an, wenn du etwas brauchst."
Sie nickte, obwohl sie nicht wusste, wie Jason ihr hätte helfen können. Sie wusste doch selbst nicht, wie sie sich, geschweige denn Izzy, helfen sollte. Als Jason davon fuhr, nahm sie Izzy wieder in die Arme, die kein Wort mehr sprach.
„Komm", flüsterte sie. „Gehen wir ins Haus."
Sie war nicht überrascht darüber, dass im Wohnzimmer noch Licht brannte. Wenn Izzy nicht nach Hause kam, dann blieb Julia meist bist in die frühen Morgenstunden wach, weil sie nicht schlafen konnte. Und manchmal, so wie heute, war auch Adam noch wach, weil er nicht schlafen konnte, wenn Julia nicht schlief.
Beide blickten zu gleichen Teilen verwirrt und erleichtert drein, als die Schwestern zur Türe hereinkamen. Izzy drückte sich an sie und mied es, Julia und Adam anzusehen.
„Hannah, was machst du hier?", wollte Julia sofort wissen, die am Küchentisch gesessen hatte und nun aufstand. „Was ist denn passiert?" Julias Blick glitt zu Izzy, die wasserleichenblass und vor Kälte und Müdigkeit zitternd neben ihr stand. „Izzy?"
Izzy antwortete nicht. Sie schob ihre kleine Schwester an Julia und Adam vorbei, Richtung Treppenaufgang, ohne dass sie sich die Schuhe auszogen.
„Ich komm gleich", wisperte sie Izzy nach und schob sie die Treppen hoch. Sobald Izzy hinauf verschwunden war und sie hören konnte, dass sie ihre Zimmertüre geschlossen hatte, drehte sie sich zu Julia und Adam um und plötzlich brachen gewaltige Schluchzer aus ihr heraus und all die Tränen, die sie mühsam heruntergeschluckt hatte, rannen in Strömen ihre Wangen hinunter.
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The Edge of Life
Teen Fiction„Wir sind alle nur traurige Menschen mit glücklichen Gesichtern." Die Geschichte vier junger Menschen.