Kapitel 4

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Die Strahlen der aufgehenden Sonne spiegelten sich dunkelrot auf der Oberfläche des Sees. Fynn hatte seine Füße in das seichte Wasser getaucht und seinen Zeichenblock auf seinem Schoß drapiert. Nachdenklich kaute er auf seinem Bleistift.
„Was machst du da?", fragte eine verschlafene Stimme hinter ihm, „Es ist noch nicht einmal sechs Uhr morgens."
Fynn warf einen Blick über die Schulter. Cassandra ließ sich neben ihn in das künstliche Gras fallen und steckte ihre nackten Füße ebenfalls in das lauwarme Wasser. Ihre Haare waren zerzaust und klebten etwas verschwitzt in ihrem Gesicht. Fynn warf einen Blick auf seine Armbanduhr. „Du bist doch auch schon wach."
Cassandra seufzte und reckte ihr Gesicht der Sonne entgegen. „Es ist viel zu warm um so lange zu schlafen. Ich bin einfach nicht für diese Hitze geschaffen."
Fynn legte den Stift auf dem Block ab, rutschte etwas auf Cassandra zu und malte ein paar Kreise in die Luft. Ein kühler Luftzug umhüllte Cassandra. Überrascht öffnete sie wieder die Augen. „Das ist so cool", rief sie aus, „Kannst du das jetzt bitte die ganze Zeit machen?"
Fynn schüttelte entschuldigend den Kopf. „Leider nicht. Sonst komme ich ja zu gar nichts mehr.", meinte er und ließ die kühle Luft wieder verschwinden. Sofort schlug Cassandra wieder die schwüle Luft entgegen.
Neugierig nahm sie Fynns Block in die Hand und betrachtete das Bild. Es zeigte einen Mann mit breiten Flügeln, geformt wie die Blätter einer Lotosblüte. „Wer ist das?"
Fynn warf einen Blick auf das Blatt. „Das ist der Häuptling der Fallon.", erklärte er, „Derjenige, der in dem Grab beerdigt wurde."
„Sahen so die Feen in Ägypten aus?"
Fynn legte den Kopf schief. „So werden sie zumindest immer auf alten Zeichnungen dargestellt. Ich habe ihn aber noch ein bisschen aufbereitet. Ob er aber wirklich so ausgesehen hat, kann ich nicht sagen."
Cassandra betrachtete das Bild genauer. „Ich kann mir gut vorstellen, dass die damals so rumgelaufen sind." Sie legte die Stirn in Falten. „Du hast gesagt, dass die Fallon und die Ägypter sich Dinge voneinander abgeschaut haben. Das heißt also, dass die Ägypter sie sehen konnten? Sie mussten sich nicht verbergen?"
Fynn nickte. „Die Ägypter waren in diesem Fall definitiv fortschrittlicher als wir. Die Menschen heutzutage hätten die Feen schon längst eingesperrt, sie verkauft oder für Experimente missbraucht.", entgegnete er bitter. Cassandra warf einen Blick auf seine Flügel. Sie konnte die Wut deutlich spüren, die in ihm hochkochte. „Also haben sie friedlich zusammengelebt?", fragte sie und hoffte damit Fynn von seinen Gedanken an seine missgestalteten Flügel abzulenken. Er nickte. „Ja, das haben sie. Die Fallon waren hoch angesehen. Manche Menschen sahen sie als Gottheiten an und verehrten sie, was nicht zuletzt an der Unsterblichkeit des Häuptlings lag."
Cassandra lehnte sich vor und fuhr mit der Hand über die Wasseroberfläche. „Wie konnte so eine Kultur aussterben?"
Fynn zuckte mit den Schultern. „Als der Häuptling starb, merkten die Ägypter, dass die Fallon nicht so unterblich waren, wie sie vorgaben und sie begannen Jagt auf sie zu machen. Ihre Flügel wurden zu begehrten Grabbeigaben und manche von ihnen wurden in Gefangenschaft zur Belustigung gehalten, wo sie aber auch nicht lange überlebt haben."
„Und da sind wir wieder in der heutigen schrecklichen Welt...", murmelte Cassandra.
Fynn nickte. „Was glaubst du warum die Feenvölker dieser Welt sich lieber in ihrer eigenen Welt aufhalten?"
„Würde ich auch machen.", entgegnete Cassandra leise.
Sie fuhr sich durch die Haare und band sie dann zu einem hohen Zopf. „Was meinst du was dieser Kovakristall ist?"
Fynn zuckte mit den Schultern. „In den Aufzeichnungen, die wir hier im Zentrum besitzen, steht nichts genaues zu der Form des Kovakristalls. Es könnte alles sein. Eine Kette, ein Armband, ein Stein, vielleicht auch eine Hasenpfote."
Cassandra zog eine Augenbraue hoch. „Vielleicht ist es auch ein Sandförmchen.", witzelte sie. Fynn musste lachen. „Ich glaube nicht, dass die Ägypter das damals schon hatten."
„Aber die Fallon vielleicht."
„Eher unwahrscheinlich."
Cassandra seufzte und schloss die Augen. „Was wird uns in der Pyramide erwarten?", fragte sie leise.
Fynn betrachtete sie aus dem Augenwinkel. „Ich habe absolut keine Ahnung. Es kann alles sein."
„Das ist ja sehr aufschlussreich."
„Wir werden es schon früher oder später sehen.", meinte Fynn optimistisch.
Cassandra wiegte den Kopf hin und her. „Ich weiß nicht ob ich mich darauf freue."
Fynn knuffte sie freundschaftlich in die Seite. „Komm schon, das wird toll. Ein richtiges Abenteuer."
„Du hattest nicht sehr viel zu tun hier mitten in der Wüste, oder?"
„Nein, deswegen freue ich mich ja so darauf."
Er betrachtete sie nachdenklich. „Und bei dir? Du hast ganz schön an Muskeln zugelegt wie ich sehe."
Cassandra zog ihre Füße aus dem Wasser. „In letzter Zeit war es recht ruhig in London.", antwortete sie, „Medusa und ich haben ein Vampirnest aufgelöst, weil diese sich immer wieder über Menschen hergemacht haben, aber sonst ist nichts passiert.  Die meiste Zeit haben wir trainiert." Sie lachte auf. „Rate mal wie oft Medusa mich die Kletterwand im Trainingsraum hochgescheucht hat."
„Keine Ahnung? An einem Tag? Ich schätze mal so hundert Mal."
Cassandra sah ihn beeindruckt an. „Genau ins Schwarze."
Fynn ließ sich rücklings ins Gras fallen. „Medusa ist eine anspruchsvolle Lehrerin. Ich musste dasselbe machen."
Cassandra betrachtete seine schmalen Unterarme.
„Das sieht aber nicht so aus.", meinte sie spöttisch.
Fynn setzte sich wieder auf. Ein schelmisches Grinsen schlich sich auf seine Lippen. „Ich habe auch ein bisschen geschummelt, aber sag es ihr bitte nicht. Ich hatte Glück, dass sie nicht richtig sehen kann, wenn ich meine Flügel benutze."
Er hielt inne. Sein glücklicher Gesichtsausdruck verschwand mit einem Schlag. „Benutz habe.", berichtigte er sich, „Wenn ich meine Flügel benutzt habe."
Cassandra sah ihn mitleidig an. Sie rutschte weiter zu ihm und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Auch, wenn sie sich wieder vertragen hatten, fühlte es sich wieder etwas komisch an ihn nach so langer Zeit wieder zu berühren. „Kann ich etwas für dich tun?"
Fynn schüttelte den Kopf und zwang sich zu einem Lächeln. „Ist schon okay. Ich habe noch immer meine Magie.", meinte er. Dann verwandelte sich sein gequältes Lächeln in ein strahlendes. Er sprang auf. „Wieso bin ich da nicht schon viel früher drauf gekommen?", rief er und raufte sich die Haare. „Ich bin in dem Zentrum mit der besten Ausrüstung und technischen Möglichkeiten und ich denke einfach nicht dran."
Cassandra sah in verwirrt an. „Vielleicht hast du es vergessen, aber ich kann keine Gedanken lesen."
Fynn ging wieder in die Hocke und griff nach seinem Zeichenblock. Er schlug eine neue Seite auf und begann darauf herum zu kritzeln. Cassandra konnte sich erst nichts unter den wirren Strichen vorstellen und auch, als Fynn ihr die, für ihn fertige, Skizze unter die Nase hielt, wusste sie noch immer nicht, was in seinem Kopf vor sich ging.
„Erklärung bitte.", bat sie.
Fynn tippte mit dem Stift auf das Blatt. „Mir fehlen die Flugfedern. Was wäre, wenn ich sie künstlich herstellen könnte? Was wäre, wenn ich es schaffen würde mechanische Federn zu bauen und sie an meinen Federn anzubringen? Wenn es so funktioniert wie ich es mir vorstelle, kann ich wieder fliegen."
Cassandra zog misstrauisch eine Augenbraue hoch. „Bist du dir sicher, dass du dir nicht gerade selbst falsche Hoffnungen machst?", fragte sie vorsichtig. Fynn schüttelte aufgeregt den Kopf. „Du hast doch Tonys Prothesen gesehen. Sie funktionieren wie seine echten Hände und Füße. Er hat mir erzählt, dass er noch nicht einmal einen richtigen Unterschied fühlt. Sie funktionieren wie vorher. Ich kann das auch schaffen."

Medusa 3-Die Fallon GrabstätteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt