𝟏𝟏. 𝐄𝐯𝐞𝐥𝐲𝐧

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Es war Mittwoch. Meine Kollegin Nea und ich hatten Schicht und hatten schon unseren ganzen Nachmittag damit verbracht gebrannte Mandeln, Schokofrüchte und andere Süßwaren zu verkaufen. Mittlerweile war der größte Andrang abgeklungen und ich hatte Zeit, kurz auf mein Handy zu schauen.

"Evelyn?" Ich schaute auf und erstarrte. Vor mir stand Sarah, eingemummelt in warmen Winterklamotten und mit einem unsicheren Ausdruck im Gesicht. Sie wippte von einem Bein auf das andere- sie war nervös. Ich räusperte mich. "Ähm, hi." Wir schauten uns gegenseitig schweigend an. Nea schien zu merken, dass Spannung in der Luft lag. "Ich gehe kurz Pause machen, okay?", fragte meine Kollegin mich. Ich nickte langsam, mein Blick noch immer auf Sarah, die vor mir stand, gerichtet. Als Nea weg war, strich die Schwarzhaarige sich eine Strähne aus dem Gesicht und ließ ihren Blick schweifen. 

"Ich-", begann sie zu sprechen, brach aber sofort wieder ab. "Was möchtest du hier, Sarah?" Meine Stimme hörte sich eisiger an, als ich eigentlich wollte. Innerlich hüpfte mein Herz auf und ab, äußerlich war ich zu einer unbeweglichen Maske erstarrt. Grüne Augen musterten mich. So oft hatte sie es getan. Hatte mich angeschaut und mich gefragt, ob alles okay sei. Und nun standen wir uns gegenüber und trauten uns nicht ein normales Gespräch zu führen. "Ich wollte einfach mal vorbeikommen", antwortete Sarah schlicht. "Einfach mal vorbeikommen?", wiederholte ich ihren Satz entgeistert. War das ihr Ernst? War das ihr fucking Ernst? Sie wollte nach all dem "einfach mal vorbeikommen"? Ich spürte, wie die ganze Wut, die ganzen Gefühle, die ganzen Tränen wieder hochkamen. "Das meint du doch nicht Ernst, oder? Ist dir nicht klar, was du getan hast? Ist dir das bewusst?", fragte ich mit erstickter Stimme. Ich sah, wie ihre grünen Augen glasig wurden. "Evelyn, ich-" "Nein Sarah, sei ruhig. Sei ruhig. Ich mag deine Ausreden gar nicht hören", wisperte ich. Fuck. Ich wollte nicht in der Öffentlichkeit weinen. Ich wollte nicht. 

"Es tut mir leid, Lynn", flüsterte sie. Mein Herz stolperte, als die den Spitznamen benutzen, mit dem sie mich damals immer genannt hatte. "Lynn, magst du auch etwas zu essen?" "Wie hast du mich gerade genannt?" "Lynn...?" "Alle nennen mich Evy." "Ja, ich weiß. Ich wollte dir einen Spitznamen geben, mit dem du nicht von jedem gerufen wirst. Er soll nur von mir benutzt werden." Ich atmete tief ein und blinzelte die ansteigenden Tränen weg. "Wieso bist du hier Sarah?" "Weil ich mit dir reden wollte." "Wie jetzt, wieso heute? Wieso nicht vor einem Jahr? Wieso erst jetzt?" Sie schwieg. Ich atmete tief ein. Die eisige Stille, die zwischen uns herrschte, war unerträglich. 

"Fuck, ich weiß es doch auch nicht. Ich habe in letzter Zeit nachgedacht. Über dich, über mich, über uns", sagte sie schließlich. "Es gibt kein "uns" mehr, Sarah", erwiderte ich ernst. Die Schwarzhaarige schaute auf, ihr Gesicht hatte sich zu einer schmerzvollen Maske verzogen. "Ich weiß." "Und ich hoffe du weißt auch, dass du es beendet hast. Du bist fort gegangen", fügte ich hinzu. Schmerz blitzte in ihren Augen auf. "Ich weiß", meinte sie erneut. "Es tat weh, okay? Es tat weh, dass du nicht zu mir gestanden bist. Es tat weh, dass ich niemandem von uns erzählen konnte. Es tat weh, dass ich nicht jedem zeigen konnte, dass du meine Freundin bist und ich verdammt stolz darauf bin. Es tat so weh, dass ich dachte, dass eine Trennung weniger schmerzhaft sein würde, als in dieser Situation zu bleiben", erzählte Sarah aufgebracht. Eine Träne rollte meine Wange hinab. 

"Mich hat das ganze auch verletzt, weißt du? Ich war verdammt glücklich mit dir, aber jede Nacht, wenn ich daran dachte, dass ich mich irgendwann outen müsste, hat sich mein Magen umgedreht. Mir wurde schlecht, ich bekam keine Luft mehr. Ich hatte Angst, dass ich alles verlieren würde- egal welche Seite ich wählen würde. Schlussendlich habe ich mich gegen dich und für meine Familie entschieden- die habe ich mittlerweile aber auch verloren", flüsterte ich leise. Wir schwiegen. Dann sagte Sarah etwas, das mein Herz erwärmte. "Du hast dich mittlerweile geoutet, nicht war? Ich bin sehr sehr stolz auf dich, Lynn." Ich schenkte ihr ein kurzes Lächeln. "Danke." Sie nickte. 

"Und was jetzt?", fragte sie kurze Zeit später unsicher. Ich schaute auf und blickte in ihre hoffnungsvollen, grünen Augen. Sie war so jung, sie war so naiv. Sie hoffte auf das Gute, sie hoffte, dass man Fehler rückgängig machen könnte. Aber das konnte man nicht. Es geschahen gute Sachen, es geschahen schlechte Sachen. Es passierte etwas und alles brach zusammen. Die Dinge aus der Vergangenheit gehörten nicht zu den Dingen in der Gegenwart. Es waren zwei verschiedene Dimensionen, die getrennt bleiben mussten. Ich schüttelte langsam den Kopf. "Sarah, was hast du erwartet? Was hast du dir erhofft?" Sie starrte zu Boden. Ich sah, wie sie nachdachte. Wie sie probierte eine Antwort zu formulieren. "Ich wollte mit dir reden. Über die Vergangenheit...", sprach sie ,"und über die Gegenwart, über die Zukunft." Ich warf ihr einen mitleidigen Blick zu. 

"Dir ist hoffentlich klar, dass es nur in der Vergangenheit ein "wir" gibt. In der Gegenwart und in der Zukunft gibt es nur "du und ich". Wir sind kein Paar mehr, Sarah. Ich hoffe, dass ist dir klar." Verzweifelt schaute sie mich an. "Aber- Trennen sich hier einfach unsere Wege? Einfach so? So, als wäre nichts geschehen?" Ich schüttelte lächelnd den Kopf. "Nein. Es ist etwas geschehen und das können wir nicht mehr rückgängig machen. Was aber als nächstes passiert, haben wir in der Hand", erklärte ich ihr. Ihr Mundwinkel zuckte nach oben. Ein bitteres Lächeln lag auf ihren Lippen, ihre Augen mit Tränen gefüllt. 

"Und du hast vor nichts geschehen zu lassen?", wisperte sie. Ich nickte langsam und spürte, wie Sarah innerlich zusammenbrach. 

"Okay. Gut. Dann...dann wünsche ich dir ein schönes Leben", meinte sie. Ich nickte. "Ja. Ja, das wünsche ich dir auch, Sarah", flüsterte ich. Mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Sie warf mir noch einen letzten, verzweifelten Blick zu, dann ging sie.

Weg von meinem Stand, weg aus meinem Leben.

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Opinions?

Frage des Tages: Mögt ihr Schnee? Schneit es bei euch?

xoxo -F

Last christmasWo Geschichten leben. Entdecke jetzt