[12] Thunderstorm

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Ich schrie.

Laut. Ängstlich. Panisch. Hasserfüllt. Leidend.

Meine Gedanken waren wie abgestellt. Gleichzeitig überfluteten sie mich. Ich konnte weder Beginn, noch Ende ausmachen. Mir ging es nicht gut. Ganz und gar nicht. Mein Herz raste. Mein Puls war zu hoch. Aber ich konnte ihn nicht kontrollieren. Nicht stoppen. Also schrie ich.

Luft. Sauerstoff. Ich musste atmen. Doch jeder Atemzug schien sinnlos zu sein. Tränen der Verzweiflung stiegen auf. Ich kniff fest meine Augen zusammen und sank langsam nieder, in die Knie. Noch immer umklammerten meine Finger das kalte Geländer der Brücke. Den Wind spürte ich schon gar nicht mehr. Nur die brodelnde Hitze in mir. Die undefinierbaren Gefühle, die Ursache für meinen Zusammenbruch, es war zu viel. Mein Körper war überfordert, mein Gehirn suchte einen Ausweg. Oder? Konnte man es so nennen? Was war es sonst?

Wieder entfloh ein Schrei meinen Lippen. Panik. Das war das beste Wort gerade. Anders konnte ich mich nicht beschreiben. Was war los mit mir? Ich hatte noch nie-

Ein lauter Donner unterbrach meine Gedanken und ich zuckte zusammen. Kaum einen Augenblick später erhellte ein Blitz die sternlose Nacht. Erneut zuckte ich zusammen, presste meine Lippen aufeinander.

So wie der Regen einsetzte, so flossen auch die ersten Tränen über meine Wangen. Ich zitterte, aber nicht vor Kälte. Noch immer war das Bedürfnis zu schreien da, doch mir entkam nicht mehr als ein Krächzen. Verzweiflung. Verzweiflung. Das war es. Verzweiflung.

All die Schmerzen, all das Leid. Und wofür? Wofür setzte ich täglich die perfekte Maske auf? Wofür gab ich täglich mein Bestes, von jedem gemocht zu werden? Sie zerstörte einfach alles.
Sie musste das nicht tun. Sie musste sich nicht ändern, nichts vorspielen. Das war so ungerecht. Mein ganzes Leben, es... es hatte an Wert verloren. Ich hatte an Wert verloren.

Wer war ich überhaupt noch?

Ich begann zu schluchzen. Mit dem Handrücken meiner dünnen Stoffjacke wischte ich über meine Augen, versuchte den Tränenfluss zu stoppen. Erfolglos. Noch immer bebte ich, es gelang mir kaum, mich auf den Beinen zu halten.

'Ich will noch nicht sterben. Ich will noch nicht sterben. Bitte, ich will nicht sterben.' Andauernd wiederholte sich dieser Satz in meinem Kopf, kombiniert mit der wachsenden Verzweiflung, der Überforderung. Mein ganzes Weltbild war zerstört, meine Persönlichkeit, meine Identität. Ich wusste nicht mehr weiter. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen sollte.

Ryujin hatte alles ruiniert. Alles, wofür ich gestanden hatte. Alles, was mich ausgezeichnet hatte. Sie hatte mir einfach alles genommen, was ich mir so schwer erkämpft hatte.

Sie hatte die gestrige Party vollkommen ruiniert. Das alles war ihre Schuld. Nur ihretwegen hatte ich den gesamten Tag gelitten. Nur ihretwegen war ich zerbrochen.

Wimmernd drückte ich mich mehr an das rostige Geländer, versuchte dem Fluss unter mir zu lauschen - als könnte dieser mich beruhigen. Doch er legte nicht seine Arme um mich. Er drückte mich nicht fest an sich. Ich war allein, ganz allein. Und ich hatte mein Handy daheim gelassen. Dabei wünschte ich mir nichts sehnlicher, als gerade umarmt zu werden. Oder meine Decke zu haben, in meinem Zimmer zu sitzen, in einer Ecke, mich ganz klein machend. Geschützt vor der Welt. Vor diesen schmerzhaften Gefühlen. Sie erstickten mich.

Ich bekam keine Luft.

Ein weiteres Donnern zwang mich dazu, aus meiner Trance aufzuwachen. Langsam hob ich meinen tränenverschmierten Blick hinauf in den Himmel, starrte ausdruckslos die schwarzen Wolken an. Wieso heute? Wieso nur heute? Was hatte diese Welt gegen mich?

Alles, was ich wollte, war, diese quälenden Gedanken loszuwerden, meinen Kopf freizubekommen. Ich wollte eine Pause haben. Ich wollte durchatmen können. Und stattdessen saß ich da, erbärmlich an das Geländer einer Brücke geklammert, während ein teuflisches Gewitter die Stadt einnahm.

Wieder schluchzte ich auf. Ich konnte nicht hierbleiben. Ich musste zurück. Entweder würde der Regen mich krank machen oder meine Gedanken. Die Einsamkeit war unerträglich, doch Jisus Zuhause war am anderen Ende der Stadt. Hyunjin würde herhalten müssen. Hoffentlich war er daheim...

Meine Beine fühlten sich wie Wackelpudding an. Langsam, mit steifen Schritten, setzte ich mich in Bewegung, löste vorsichtig meine Finger von dem eisigen Geländer. Ein tiefer, zitternder Atemzug sollte die Leere in mir füllen, bevor ich mich in Bewegung setzte. Ich konnte nicht klar denken. Aber den Weg nach Hause kannte ich in- und auswendig.

Vielleicht eine Abkürzung? Bei all den Pausen, die ich benötigte, wäre es die bessere Wahl. Die Gassen waren ohnehin leer; ein Gewitter trieb jeden unter das schützende Dach.
Angst vor Gefahren war gänzlich abgestellt. Lediglich die Todesangst, die in mir brauste und brodelte, machte mich fertig, blockierte meine Gedanken.

Fuck.

Rechts oder links?

Ich erinnerte mich nicht mehr. Dann jedoch taumelte ich nach links, mich gleichzeitig an einer Wand stützend. 'Reiß dich zusammen, Yeji. Du bist 17. Du schaffst das', redete ich mir innerlich ein. Ein bisschen funktionierte es. Meine Schritte wurden bestimmter, mein Gang etwas lockerer. Wenngleich mein Puls noch immer zu hoch war, ich konnte mich bewegen. Noch zwei Straßen... nein, drei. Dann kam die große Kreuzung. Verdammt, wieso hatte ich keine Kopfhörer mitgenommen? Sonst verließ ich auch nie das Haus ohne Musik. Hyunjin hätte mich abholen können.

Sofort schüttelte ich meinen Kopf. Ich hatte keinen blassen Schimmer, wie lange ich schon hier draußen war. Aber mir war kalt. Ich wollte zurück ins Warme. Ich konnte wieder normal atmen, der Tränenfluss hatte gestoppt. Ein Glück, dass ich heute kein Make-Up aufgetragen hatte, ich wäre eine Katastrophe gewesen.

Wobei... das war ich so oder so. Verfluchte Ryujin.

Wenn man vom Teufel sprach, so erschien er auch. Eine laute Stimme ließ mich zusammenzucken, sie hatte selbst den Donner übertönt, der im selben Moment die Stadt erzittern ließ.

"Hey, Yeji! Komm rein, sonst wirst du noch krank!"

Wie in Zeitlupe drehte ich mich nach links, schaute nach oben. Dort stand sie. Shin Ryujin. Sie lehnte sich aus einem Fenster, Sorge lag in ihrem Blick. Sorge? Hatte ich versehentlich ein Paralleluniversum betreten? Mein ganzer Körper spannte sich bei ihrem Anblick an und ich bemerkte wieder, dass ich unruhig wurde. Es brauchte einen Augenblick, bis ich meine Stimme fand.

"Wieso sollte ich? Wir hassen uns", rief ich zurück. Die Stärke, die ich in meiner Stimme erwartet hatte, enttäuschte mich. Ryujin konnte sicherlich heraushören, dass ich nicht wohlauf war. Dass es mir grauenhaft ging.

"Tun wir? Hab ich irgendwie nicht mitbekommen", gab die Blauhaarige zurück. Ein neutraler Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht, sie legte den Kopf schief. Selbst verwundert blinzelte ich ein paar Mal, starrte sie wortlos an. War das gerade ihr Ernst? Hatte ich tatsächlich ein anderes Universum betreten? Was ging hier vor sich? Oder sah ich so fertig aus, dass sie... Mitleid empfand?

Was auch immer es war, ich war mir ziemlich sicher, ich wollte es eigentlich gar nicht herausfinden.

"Warte einen Moment, ich mache dir die Tür auf. Bei dem Sturm ist es zu gefährlich, draußen zu bleiben", sprach sie dann einfach weiter, meine Reaktion gar nicht abwartend. Einen Moment lang zögerte ich. Sollte ich einfach rennen? Weg von hier? Bis ich mich endlich wieder zurecht fand und wusste, wie ich heim kam? Andererseits war sie im Basketballteam und im Gegensatz zu mir kein Gefühlschaos. Entweder würde ich fallen oder sie würde mich einholen.

Ich hatte einfach keine Kraft mehr zu kämpfen. Also ergab ich mich. Ich war geschlagen.

"Okay..."

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This might be one of my favorite chapters so far.
And I wrote it while having an anxiety attack myself, so I'm pretty sure it's a great representation about how someone might feel during a breakdown/attack.
~Cookie

Blue Flames ★ RyejiWo Geschichten leben. Entdecke jetzt