Prolog

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"Lorelei, bitte lies du uns jetzt deinen Aufsatz über die Berufe deiner Eltern und deine Ziele vor", bat mich die Lehrerin, weshalb ich mein Schreibheft aufschlug. Ich war in der 3. Klasse und unsere Hausaufgabe war gewesen, unsere Eltern über ihre Berufe auszufragen und ich hatte mir mit meinem Aufsatz extra viel Mühe gegeben. Ich räusperte mich und begann zu lesen. 

"Ich habe keinen Papa, also werde ich nur von meiner Mama erzählen. Ich stelle mir immer vor, dass mein Papa ein Astronaut ist, der leider zurück ins All musste und deshalb nicht bei meiner Mama und mir ist. Meine Mama ist Po... Pro... Pros... Pros-ti... Pros-ti-tu-ier-te", begann ich. Bei dem letzten Wort hatte ich immer noch Probleme, war jedoch stolz auf mich, dass ich es schaffte, es richtig auszusprechen. "Stop!", unterbrach meine Lehrerin sich lautstark. Mit traurigem Blick schaute ich sie an. "Wieso darf ich nicht weiter vorlesen? Die anderen dürfen das doch auch alle und ich bekomme sonst eine schlechte Note", widersprach ich unschuldig meiner Lehrerin. Immerhin war mir nicht bewusst, warum sie so böse auf den Anfang meiner Hausaufgabe reagierte. Sie dachte nach, bevor sie genervt stöhnte und mich fortfahren ließ. "Meine Mama ist eine Pros-ti-tu-ier-te. Das ist eine Frau, die mit Männern kuschelt, die niemand lieb hat. Die Kunden nennt Mama auch 'Freier'. Diese Männer machen ihr als Dankeschön Geschenke und wenn sie mal ein bisschen länger mit meiner Mama kuscheln wollen, bringen sie mir neue Spielsachen mit. Ich habe deshalb vieles tolles Spielzeug. Meine Mama macht diesen Beruf nur, damit sie zuhause arbeiten kann und deshalb immer für mich da ist und ich nie alleine bin. Meine Mama ist mein Vorbild und ich will irgendwann mal genauso wie sie entscheiden können, womit ich mein Geld verdiene."

Die Lehrerin wirkte verdutzt, zum Glück klingelte es jedoch zum Schulschluss und wir durften gehen. Ich packte mein Schreibheft und meine Stifte in meinen Schulranzen, bevor ich ihn auf meinen Rücken setzte und mich auf den Weg nach Hause machte. 

Der Weg war weit, jedoch lief ich den jeden Tag alleine nach Hause. Vor dem Haus kämpfte ich mich durch die Unmengen an Kartons voller Müll zur Haustür, die ich aufdrückte, weil sie fast immer nicht abgeschlossen war. Die Treppen hochzugehen war durch den Müll überall anstrengend, aber ich kannte es nicht mehr anders. Oben angekommen schloss ich die Wohnungstür auf, um sie hinter mir wieder zu schließen. 

Innen hörte man ein rhythmisches Quietschen, weshalb ich direkt in mein winziges Zimmer ging und meine Hausaufgaben machte. Sehr schnell war ich damit fertig, bis das Telefon klingelte. Schnell lief ich in die unaufgeräumte Küche, um es abzuheben. "Hallo?", meldete ich mich, bevor ich die Stimme meiner Lehrerin hörte. "Hallo Lorelei, ist deine Mama zuhause?", fragte sie freundlich, weshalb ich nun zur geschlossenen Wohnzimmertür ging, aus der es immer noch quietschte. 

Laut klopfte ich gegen dir Tür, worauf es augenblicklich ruhig wurde. Mom öffnete die Tür einen Spalt und schaute mich genervt an. "Was willst du?", brummte sie mich an und rieb sich die Nase. "Meine Lehrerin will mit dir reden", sagte ich und gab ihr das Telefon, bevor ich zurück in mein Zimmer ging. 

Irgendwann bekam ich Hunger, weshalb ich in die Küche lief und mir etwas zu essen suchte. In der hintersten Ecke des Gefrierschrankes fand ich noch ein paar Chickennuggets, die ich mir in einer Pfanne zubereitete, weil der Backofen seit Wochen kaputt war. 

"Hallo Kleines", meinte eine männliche Stimme. Schnell drehte ich mich um und schaute den Mann an, der seit Jahren regelmäßig hier war. "Hallo Karl", begrüßte ich den Mann mit den dunkelbraunen Haaren und dem perfekt gepflegten Schnurrbart. Dass er hier meistens nur in seiner Unterhose herumlief, störte mich mittlerweile gar nicht mehr. "Soll ich mit dir zu dem Gespräch mit deiner Lehrerin gehen? Deine Mama muss noch arbeiten", meinte er liebevoll. Ich dachte nach und drehte vorher die Nuggets um. "Aber nur wenn ich vorher noch essen kann und du mir die neue Barbie kaufst", stellte ich als Bedingung, worin er lachend einstimmte. Freudestahlend wartete ich, bis mein Essen fertig war und verspeiste es, während er sich anzog. Er schnallte mich in seinem Auto an, bevor wir gemeinsam zur Schule fuhren. Ich vertraute ihm, weil er war wie ein Ersatzpapa. 

"Wer sind Sie denn?", fragte die Lehrerin überrascht, als ich mit Karl ihr Klassenzimmer betrat. "Karl Heiser, ich kümmere mich in Abwesenheit ihrer Mutter oft um Lorelei", erklärte er und gab der Lehrerin die Hand. Widerwillig gab sie ihm ihre, bevor sie sie in ihrem schwarzen Rock abwischte. Ich setzte mich neben Karl auf den Stuhl und schaute mich um. "Lorelei hat heute über den Beruf ihrer Mutter erzählt vor der gesamten Klasse. Mich haben diverse Beschwerden von Eltern der Mitschüler erreicht und ich bitte Sie, die Kleine aus dem herauszuhalten", meinte die Lehrerin ernst, worauf Karl widersprach. "Sie wollen mir damit also sagen, dass Lorelei darüber lügen soll, was ihre Mutter arbeitet? Ich bitte Sie, ich habe den Aufsatz gelesen und ich finde ihre Formulierung sehr treffend und gleichzeitig angemessen. Würden die Eltern nicht auf alles, was für sie fremd ist, so kritisch reagieren, hätten wir hier gar kein Problem. Das ist ein beruf wie jeder andere und das sollten sowohl Sie als auch die anderen Eltern akzeptieren."

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