5 | Piszczek x Schmelzer

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Ich blicke auf die gelbe Menge, die jubelt. Sie jubeln für mich, sie jubeln, weil ich heute mein letztes Spiel habe. Mein Abschiedsspiel. Mein Karriereende. Ich werde nie wieder als Spieler tätig sein. Den Kloß, der sich in meinem Hals gebildet hat, runterschluckend atme ich tief ein. Dieses Stadion, diese Fans, diese Mannschaft, vor allem diese Mannschaft, war jahrelang meine Heimat. 2007 in der Dortmunder U19, seit 2008 dann im Kader der richtigen Mannschaft, Debütspiel in der Startelf am 9. August 2008 im DFB-Pokalspiel gegen Rot-Weiß-Essen. Heute ist das über 13 Jahre her, und manchmal fühlt es sich immer noch so an als wäre es gestern gewesen.  Hier in Dortmund hat sich auch mein Leben drastisch auf den Kopf gestellt.

Ich hatte zwar nicht nur positive Momente, Gott, mein gesamtes Jahr 2021 war spielerisch gesehen eine Katastrophe, oder besser gesagt, nicht vorhanden, aber es meine Zeit hier hatte definitiv sehr viele positive Seiten. Allein schon, dass ich hier das Glück meines Lebens gefunden habe. Meinen Freund, oder besser gesagt Verlobten, den ich jetzt mit meinem Blick suche. Wir sind seit 2014 zusammen, aber offiziell weiß es außer ein paar Mitspieler niemand. Vor allem nicht die Öffentlichkeit. Wir hatten natürlich schon darüber nachgedacht, unsere Beziehung zu veröffentlichen. Ich weiß noch wie oft Lukasz und ich auf dem Sofa saßen, ein Bild von uns auf beiden Instagram Accounts, aber nicht in der Lage, es zu veröffentlichen. Die Welt ist noch nicht bereit für zwei schwule Profisportler. Sie sollte es sein, die Welt sollte nicht mal ansatzweise ein Drama daraus machen dürfen, ob wir uns lieben und ob wir beide Männer sind, aber es ist nun mal so. Die Medien, viele Fans, allgemein viele Menschen sind dafür einfach noch nicht bereit. Verwirrt darüber, dass ich ihn nicht finden kann, drehe ich mich wieder zur Mannschaft, um mit dieser meinen Abschied zu feiern. Auch wenn ich heute nicht mein letztes Spiel hatte, sondern eine Weile her, bin ich erschöpft. Erschöpft von all den Erinnerungen die mir durchgehend durch den Kopf strömen, Champions League, Bundesliga, DFB-Pokal, Nationalmannschaft – alles geht mir durch den Kopf.

Ich bemerke Marcos mitleidenden Blick, der erst mich trifft, und dann mein Knie. Mein Knie, das mir die letzten Jahre Fußball geraubt hat. Und das gerade verdammt weh tut, das ist aber nebensächlich. Ich schaue wieder zu den Zuschauern, leider gedämmt durch die steigenden Corona Zahlen. Aber dass überhaupt welche da sind, obwohl es Winter ist und arschkalt berührt mich extrem. Seufzend schaue ich auf die Uhr und sehe, dass das Dortmund Spiel gleich beginnt. Eigentlich sollte ich miteinlaufen und mein allerletztes Spiel absolvieren, aber das kann ich den Zuschauern – und auch mir, leider nicht erfüllen. In Gedanken verloren spüre ich plötzlich zwei starke Arme um mich und muss sofort lächeln. Tief atme ich den mir so vertraute Geruch meines Freundes ein und vergesse einen Moment, wo wir sind, wer uns alles sieht und das hier gefühlt überall irgendwelche Kameras sind. Lukasz lässt mich los und deutet mir an, dass ich ihm zur Tribüne folgen soll. Ich verabschiede mich noch von der Mannschaft und wünsche ihnen alles Glück der Welt und natürlich ein gutes Spiel. Auf dem Weg zur Tribüne atme ich noch einmal tief die Luft vom Spielfeld ein (als wäre die anders als auf der Tribüne?) und folge Piszcu nach oben.

Oben angekommen setze ich mich neben ihn, und meine Hand wird direkt umklammert. Mit sanften Bewegungen, wohl um mich zu beruhigen, streicht er mir über die Handinnenfläche, als die Mannschaft einläuft. Das Spiel beginnt, und komischerweise genieße ich es jede Sekunde mehr, hier zu sitzen, anstatt da unten zu stehen, als sich plötzlich die Möglichkeit ergibt. Marco spielt zu Julian, und dieser zu Erling, und der Ball fliegt perfekt zwischen die Arme des Torwartes in den viereckigen Kasten.

Ich springe auf (mein Knie wird mich dafür hassen) und juble für das Team, als ich zwei Hände um mein Gesicht spüre und dann weiche, aber kalte Lippen auf meinen. Etwas überrascht lasse ich es erst zu, bis ich den Kuss erwidere. Und es ist mir in dem Moment egal, wer uns alles sieht und was morgen alles in den Zeitungen steht. Ich stehe hier, mit dem besten Freund, den ich mir wünschen kann, und verfolge meine ehemalige Mannschaft wie sie gewinnt, während ich meine „Rente" antrete. Als Lukasz sich von mir löst, und mir plötzlich total warm ist, kommt mir ein Wort in den Kopf: Glück. Vielleicht ist an diesem abrupten Karriereende, an der Situation, dass Dortmund meinen Vertrag nicht verlängern wollte und mein Arzt mir riet, mein Knie so gut zu schonen wie möglich, was auch den Verzicht auf Fußball bedeutet, nicht alles so schlecht. Vielleicht stehe ich in ein paar Jahren wieder da unten und trainiere junge Menschen, damit es ihnen irgendwann genau so geht wie mir. Ich schaue in das wunderschöne Gesicht des Polen und drücke grinsend seine Hand.

Fußball OneShots [boyxboy]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt