Song für diese Geschichte: „It'll Be Okay" von Shawn Mendes.
Unsicher stehe ich vor Joshuas Tür und klopfe. Ich hoffe, er ist überhaupt zuhause. Ich habe mich weder angekündigt noch irgendwie angedeutet, dass ich vorbeikomme, es war eine Kurzschlussreaktion. Schluckend höre ich das Surren der Klingel.
Ich musste das jetzt loswerden, musste mit irgendjemandem reden, und wieso nicht mit meinem besten Freund, seit wir 12 sind? Lina öffnet mir überrascht die Tür. Gott, ich hoffe, ich habe die zwei nicht bei irgendwas gestört. Nervös spiele ich mit meinem Daumen und frage Lina, ob Joshua auch zuhause ist, und sie erwidert meine Frage mit einem Nicken und einem leisen „Ist alles okay, Serge?". Überrascht über die Frage antworte ich ihr mit einem schlichten Ja, und sie bittet mich reinzukommen, immerhin würde ich mich bei ihnen eh auskennen.
Ich trete ein, stelle meine Schuhe sauber in den Flur und sehe mich um. Die zwei haben ihr Haus so schön eingerichtet, überall Fotos der Kleinen. Die Kleinen sind Jos Ein und Alles, ich glaube, er würde für sie sterben. Ich muss leicht lächeln. Ich liebe diese Racker auch, ihr Sohn ist sogar mein Patensohn. Kinder waren schon immer ein Wunsch von mir, allerdings wird das etwas schwer. Ich seufze leise und höre dann schon die schnellen Schritte meines besten Freundes, der mich nur kurz ansieht, bemerkt, dass etwas nicht stimmt und mich sofort in seinen Arm zieht. Jo war zwar klein, aber ich war noch kleiner, und ich drücke mich leise an ihn. Seine Umarmungen haben schon immer den Trost gegeben, den man brauchte. Wenn früher irgendwas geschehen ist, ich eine schlechte Note oder Stress zuhause hatte, hat mir eine Umarmung von Jo schon geholfen.Jo bittet mich, mit ins Wohnzimmer zu kommen und fragt, ob ich irgendwas zu trinken haben möchte.
Leise nickend bitte ich ihn um ein Glas Wasser, welches er mir dann auch gleich reicht. Ich habe keinen Durst, ich brauche nur irgendwas, um meine Hände zu beruhigen. Sonst fange ich noch an zu zittern, oder keine Ahnung was. Ich setze mich auf das große, gemütliche Sofa und schlucke leise. Ein Punkt bei Jo ist, dass er einen nicht stresst oder sogar drängt. Er lässt mir die Zeit, die ich benötige, und zwingt mich nicht, es sofort auszuposaunen. Und er würde auch nie irgendwas von mir weitererzählen. Gerade auch deshalb sitze ich bei ihm auf dem Sofa, und nicht bei irgendeinem anderen Freund. Und, weil Joshua Kimmich seit 14 Jahren mein bester Freund ist und die Wahrheit verdient. Ich war 14 Jahre lang zu feige, ihm davon zu erzählen und habe ihm eine Lüge vorgelebt. Was erzähle ich da überhaupt? Ich habe mir die letzten 26 Jahre doch selbst eine einzige, große Lüge vorgelebt, zu feige, es mir selbst einzugestehen. Ich spüre kurz Jos nachdenklichen Blick auf mir, und umklammere das Glas Wasser noch fester, als würde es mich sonst erwürgen. Leise versuche ich einen Satz, breche diesen aber wieder ab und starre auf das Glas. Was, wenn Jo mich hasst? Was, wenn er es doch erzählt? Dann wäre deine Karriere vorbei. Oder besser, du würdest im Winter bei der Weltmeisterschaft gesteinigt oder erschossen werden. Ich spüre die leise Panik in mir ausbrechen, die meinen Hals komplett austrocknet und setze das Glas an meine Lippen.
Ich trinke einen großen Schluck, und dann noch einen, und noch einen, bis das Glas leer ist. Zum Glück nur Wasser. Jo wendet seinen Blick ab, seufzt, und schaut sich im Wohnzimmer um, in welchem noch mehr Bilder hängen. Er mit seiner Familie, er mit Lina, Jo und ich als Kinder, unser Dreiergespann beim FC Bayern nach der gewonnenen Champions League, ein Foto der Mannschaft, ein Foto der Nationalmannschaft. Das alles könnte vorbei sein, wenn ich es ihm sage. Die ganzen Bilder könnten im Müll landen, unsere Freundschaft nur noch eine Erinnerung.„Ich muss mit dir über was reden, es ist unglaublich wichtig. Eine Sache, die ich mir in den letzten Wochen eingestehen musste und die ich dir erzählen muss, denn du verdienst die Wahrheit, nicht nur eine Lüge", flüstere ich.
Keine Ahnung, woher die Worte überhaupt kommen, woher meine Kraft kommt, es ihm zu erzählen. Meine Hand fängt an zu zittern, und ich spüre Joshuas Blick in meinen Augen. Ich breche den Augenkontakt ab, zu schmerzhaft ist es. „Ich... ich brauchte meine Zeit, mir das irgendwie einzugestehen. Ich habe 26 Jahre lang ein Scheinleben geführt. Mir und den anderen 26 Jahre lang etwas vorgespielt, um meinen Beruf auszuleben. Um Freunde zu haben. Um normal leben zu können. Aber ist normal leben, mich zu etwas zu zwingen, was mich derart anekelt, dass ich danach jedes Mal am liebsten weinen würde? Ist normal leben, nicht das zu tun, was ich will? Gott, ist das alles normal?". Verzweifelt spüre ich, wie meine Augen anfangen zu brennen, und meine Wangen dann plötzlich mit Tränen überschwemmt werden. Ich spüre zwei sanfte Arme, die mich an Joshua drücken, aber nicht einmal seine Umarmung kann mir mehr helfen. Die Tränen, die Verzweiflung, die ganzen verlogenen 26 Jahre nehmen die Überhand, und ich breche in Jos Armen zusammen. „Ich bin schwul, Jo. Ich stehe nicht auf Frauen, sondern auf Männer. Die ganzen Beziehungen, die ganzen One-Night-Stands, alles war gespielt. Alles war gespielt. Es tut mir so leid", weine ich an seine Schulter. Anstatt dass Joshua mich loslässt, angeekelt ist von mir, drückt er mich nur noch fester an sich, streicht mit seiner Hand über meinen Rücken, mit der Mission, mich irgendwie zu beruhigen. Ich beruhige mich langsam und löse mich dann aus Jos Umarmung. Ich traue mich nicht, ihn anzusehen. Zu sehr habe ich Angst vor einem verurteilenden Blick, vor einem Blick aus Hass oder Ekel. „Denkst du wirklich, dass ich dich deshalb weniger mögen würde?", flüstert Jo leise, und in seiner Stimme ist ein Hauch von Verletzung.
Gott, das wollte ich nicht. Ich wollte Jo nicht verletzen. „Fußball ist ein verdammter homophober Sport. Du siehst es am Beispiel von Josh Cavallo. Und er ist nicht mal so ein großer Fußballer, und er hat Todesangst vor der WM", die Tränen kommen wieder in mein Gesicht, und ich lasse ihnen freien Lauf. Ich spüre Jos Hand auf meiner, die sanft über diese streicht.„Serge. Du bist mein bester Freund, und ich habe dich verdammt lieb. Egal, ob du Männer liebst, oder Frauen. Das geht mich doch eigentlich auch gar nichts an, das geht keinen etwas an", höre ich sanft Joshuas Stimme, und schaue ihm dann in die Augen. Dort sehe ich weder Hass, noch Ekel, noch Abscheu. Er meinte das wohl wirklich ernst. Ich muss leise schlucken, und werde in dem Moment einfach wieder in eine feste Umarmung gezogen, die einige Zeit anhält.Als Jo mich dann loslässt, zieht er mich einfach auf seine Beine und mit in die Küche. Dort holt er zwei Tassen aus dem Schrank und macht uns zwei Tassen Kakao. Er zieht mich mit in den Garten auf zwei Stühle, und lächelt mich sanft an, mit der Aufforderung, ihm alles zu erzählen, wenn ich dazu bereit wäre. Wie damals, in alten Zeiten, umklammere ich den warmen Kakao und fange an, ihm zu erzählen.
Von meinen Gefühlen, von meinen gescheiterten Beziehungen, bei der die letzte mit einem Polizeieinsatz endete, da sie mich öffentlich outen wollte, von meiner Kindheit, in welcher mir immer eingetrichtert wurde, dass schwul sein eine Sünde wäre, und ich das ja nicht dürfte, einfach von allem. Ich erzähle ihm von meiner letzten Begegnung mit einem jungen Mann, welchen ich echt gerne hatte, der das zwischen uns aber alles beendet hat, weil ich mich öffentlich nicht outen wollte – und so nicht zu ihm gestanden wäre. Ich erzähle Jo von den Gefühlen, die danach in mir auftauchten. Von dem Hass auf mich selber, dass ich zu feige bin, es irgendwem zu erzählen, und weil ich mir selber mein Glück klaue. Jo hört sich die ganze Geschichte an, nickt ab und an und hört dann wieder nur zu, beobachtet zwischendurch mich, dann seine Tasse und dann wieder mich. „Es ist doch schon einmal ein Anfang, dass du es mir erzählst, und dafür bin ich dir sehr dankbar, Serge. Vielleicht bist du irgendwann so weit, es anderen zu erzählen. Leon, oder Leroy, oder auch Manuel. Die alle würden hinter dir stehen, glaub mir. Ich tue es aufjedenfall", ertönt die sanfte Stimme meines besten Freundes, und seine Worte treiben mir fast wieder Tränen in die Augen. „Hilfst du mir?", flüstere ich leise und erhalte ein sanftes Nicken als Antwort. Joshua und ich reden noch eine Weile über meine Gefühle und meine Erfahrungen mit Homophobie, als ich plötzlich Schritte höre.
Ich drehe mich um und sehe Joshuas kleinen Sohn vor uns stehen, mit seinem Teddy in der Hand, wie er mich nur ansieht und dann auf mich losrennt. „Es tut mir unglaublich leid, er ist aufeinmal losgesprintet, ich wusste nicht mal, dass er so schnell ist!", ruft Lina, komplett aus der Puste, als sie auch bei uns auftaucht. Der kleine Junge legt seine Arme um mein Bein, so dass sein Teddy mich auch halb umarmt, und schaut mir in die Augen. „Bett, Onkel Serge?", gähnt er, und ich muss sehr leicht grinsen. Ich bemerke Joshuas, und auch Linas Blick auf mir, streiche mir kurz über die Augen und nehme dann den kleinen Mann auf den Arm. Ich nicke Jo zu, gehe mit dem kleinen in sein Zimmer und setze mich neben ihn auf das Cars Bett. Er kuschelt sich sofort rein und erwartet nicht mal eine Gute Nacht Geschichte, wie er es sonst immer tut. Ich dachte gerade er schläft schon und will mich erheben, als ich ein sehr leise, aber hörbares „Hab dich lieb", höre. Ich muss lächeln.
Vielleicht waren die Erwachsenen schlechte Menschen, die einen wegen ihrer Hautfarbe, oder ihrer Sexualität verurteilen, aber Kinder nicht. Ich flüstere eine leise Erwiderung, und gehe dann zu meinem besten Freund und seiner Freundin zurück. Lina, die das alles wohl gehört haben muss, und Jo lächeln mich sanft an und deuten mir, dass ich mich zu ihnen setzen soll, was ich dann sofort auch tue. „Ich hoffe es ist kein Problem, dass ich euch insgeheim zugehört habe, aber die Wände hier sind echt nicht die dicksten", ich nicke leise und schaue dann wieder auf meine Hände, bis mich mein bester Freund anstupst.„Du bleibst jetzt erstmal die Nacht hier, und morgen sieht alles schon anders aus, okay? Es wird alles okay, und wir schreiben deinem Verflossenen morgen in Ruhe eine Nachricht, in der wir alles erklären. Ich habe dich lieb, Serge, egal was ist. Du bist mein bester Freund, mein Bruder", lächelt Jo sehr sanft.