- Prolog -

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April 2021

Es war, als stünde die Welt still. Als wurde ein großer Teil ihres Herzens direkt mit bloßen Händen, aus ihrer Brust gerissen. Clara konnte sich nicht bewegen. Schien wie angewurzelt, ganz fest auf dem Boden festzukleben. Das was von ihrem Herzen noch übrig blieb, raste mit unheimlicher Geschwindigkeit und unaufhörlich in ihrer Brust weiter. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, als sie den Anruf beendete und ihr Handy mit zitternden Händen fest umklammerte. Eine Zeit lang, Clara wusste nicht wie schnell oder langsam die Zeit verging, es hätten Stunden sein können, doch sie hatte kein Zeitgefühl mehr, starrte sie auf das Display ihres Handys. Immer und immer wieder drückte sie auf den seitlichen Knopf, sodass ihr Display hell aufleuchtete und sich das Bild eines kleinen Jungen in schwarz-weiß abzeichnete. Sobald der Bildschirm ihres Handys sich verdunkelte, drückte Clara mit schwitzigen Fingern direkt wieder auf den Knopf, um weiter auf das Bild zu starren. Tausende von Gedanken rasten durch ihren Kopf und es schien, keinen einzelnen dieser Gedanken anhalten zu können. Wie ein Film spielte sich ihr Leben der letzten 3 Jahre ab.

Die zwei roten Striche des Schwangerschaftstests, der ihr verriet, dass sich ihr sehnlichster Wunsch nun endlich mit ihren schon 29 Jahren erfüllt hatte. Die aufregende Zeit während ihrer Schwangerschaft, als sich ihr Bauch von Woche zu Woche veränderte und zeigte, dass ihr kleines Wunder langsam aber sicher in ihr heranwuchs. Die schmerzliche Trennung von ihrem damaligen Freund und dem werdenden Vater ihres Kindes, nur ein paar Wochen nach dem positiven Testergebnis. Niklas habe sich überfordert gefühlt mit der komplett neuen Situation und sei noch nicht bereit gewesen, sich um ein anderes Lebewesen zu kümmern und Verantwortung zu übernehmen. Schließlich kam er gerade mal mit seinem eigenen verkorksten Leben gerade so klar und führte mit Clara eine halbherzige 3-jährige Beziehung. Doch auch der Schlussstrich mit Niklas ließ Clara sich nicht davon abhalten, für ihr kleines Wunder zu sorgen und es für immer lieben zu wollen. Und so hatte Clara, nach tränenreichen und schmerzerfüllten Tagen, sich kurzerhand dazu entschlossen, einen kompletten Neustart hinlegen zu wollen und kündigte noch während der Schwangerschaft ihre gemeinsame Wohnung mit Niklas, der bereits wenige Tage nach der Trennung ausgezogen war und zog von der Großstadt Münchens in eine sehr ländlich gelegene Gegend. Clara Larson selbst konnte es sich aus beruflichen Gründen leisten, auch anderswo ihrer Tätigkeit als erfolgreiche Kinderbuch-Autorin und Lektorin nachzugehen.

Und so lief der Film der letzten 3 aufregenden Jahre weiter vor ihrem geistigen Auge ab. 

Die Geburt im Januar 2018 ihres kleinen Wunders, dem sie den wunderschönen Namen Finn gab. Clara selbst hatte skandinavische Wurzeln. Ihr Vater Christian Larson war gebürtiger Däne und zog aus beruflichen Gründen in den 70er Jahren nach Deutschland, wo er 1978 Claras Mutter Sybille Wendstein kennen und lieben lernte. 1987 kam Clara in München zur Welt und so nahm das Leben seinen Lauf.

Finn Larson war Claras ganzer Stolz und sie wusste, dass sie als frischgebackene Mutter alles für ihren geliebten Sohn tun würde. Sie würde kämpfen wie eine Löwin, um ihr Ein und Alles beschützen und ihm ein schönes Leben ermöglichen zu können.

Das erste Lächeln, die ersten Worte, die ersten Schritte, all das waren unvergessliche Momente, die sich so tief in Claras Herz gebrannt und sie wissen lassen hatte, dass diese unbeschreiblich schönen Momente mit ihrem kleinen Wunder für immer ihr gehörten und diese ihr niemand wegnehmen konnte. Der kleine Wirbelwind erfüllte Claras Leben mit so viel Freude. Nichts hatte sie in diesen 3 Jahren trennen können. Alles hatten die beiden zusammen erlebt und für sie gab es nie einen Moment, in dem sie sich ihr altes Leben, ihre alte „Freiheit" zurückwünschte. Clara die Löwin, die sich nichts anderes mehr hatte vorstellen können, als für ihren Sohn da zu sein und noch viele wunderschöne Momente in seinem Leben zu teilen.

Clara die Löwin...


Nun stand sie da, immer noch angewurzelt in ihrem Wohnzimmer, auf das Display ihres Handys starrend und wurde durch ein lautes und mehrmaliges Klopfen an ihrer Haustür in die Realität zurückgeholt. Clara fuhr aufgelöst herum und starrte auf die Eingangstür durch deren brüchig wirkendem Glas man zwei verschwommene Gestalten erkennen konnte. Sie blieb weiter wie angewurzelt stehen, nicht fähig auch nur einen Schritt nach vorne zu setzen. Erneut klopfte eine der Gestalten an die brüchig wirkende Glastür. Clara versuchte den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken. Aufregung machte sich in ihrem ganzen Körper breit und ihre schwitzigen Hände begannen erneut zu zittern. Mit aller Macht versuchte sie sich von den Wurzeln ihres Wohnzimmerbodens loszureißen und schaffte es nach einer gefühlten Ewigkeit, ein Bein vor das Andere zu setzen. Langsam öffnete Clara die Haustür und lugte durch einen schmalen Spalt hindurch. Die zwei verschwommenen Gestalten, die sie bis eben noch hinter der Glastür wahrgenommen hatte, entpuppten sich zu zwei Polizeibeamte, die mit ihrem Erscheinen ihre Uniformkappen absetzten und behutsam in ihren Händen hielten. „Clara Larson?" erkundigte sich die etwas klein geratene Polizistin mit langen, blonden und geflochtenen Haaren, die neben einem Muskelberg an Mann stand. Claras Kehle schnürte sich langsam zu. Mit zittriger Stimme versuchte sie den beiden Beamten zu antworten. „Ja? ..." Noch bevor die Polizistin mit betrübtem Blick anfangen konnte zu erzählen, wusste sie längst, was jetzt kommen würde. Hatte die Erzieherin des Kindergartens ihr doch bereits soeben am Telefon völlig aufgelöst davon berichtet und ihr mitgeteilt, dass die Polizei jeden Moment bei ihr eintreffen werde. „Frau Larson, wir müssen ihnen eine schreckliche Mitteilung überbringen.", setzte die Polizistin an, die sich durch das kleine Namenschild an ihrer Uniform als Frau Werner erkennen ließ. Claras Kehle schnürte sich immer weiter zu. Unfähig auch nur ein Wort herauszubringen, ließ sie die beiden Beamten eintreten, indem sie die Tür weiter öffnete und mit ihrer Hand in das offene Wohnzimmer bedeutete.

„Es ist besser, wenn sie sich setzen." Mit behutsamer Stimme und einem leichten Druck auf Claras Schulter, versuchte Frau Werner sie zum Hinsetzen zu bewegen. Wie automatisch lies sie sich in den hellen Ohrensessel drücken und starrte erneut auf ihr Handy. „Frau Larson, wir müssen sie darüber informieren, dass es heute zu einem schrecklichen Unfall gekommen ist.", setzte Hauptkommissarin Werner erneut an. Claras Sinne waren wie benebelt als das Wort „Unfall" fiel und die Bruchstücke ihres Herzens rasten weiter mit gefühlter Lichtgeschwindigkeit in ihrer Brust.

„Ihr Sohn Finn wurde heute während eines Ausflugs mit der Kindergartengruppe von einem Auto angefahren, als er versuchte einen freilaufenden Hund von der Straße zu scheuchen. Ihr Sohn muss das Auto schon von weitem gesehen haben und hatte wohl wahrgenommen, dass der Hund auf der Straße stand.", berichtete Frau Werner weiter. Die Worte der Polizistin kreisten um Claras Kopf und vernebelten weiter ihre Sinne. „Dabei wurde ihr Sohn von dem anfahrenden Auto über die Straße geschleudert und blieb regungslos liegen. Ein Sanitäter hatte noch vor Ort Wiederbelebungsmaßnahmen eingeleitet. Jedoch kam jede Hilfe zu spät. Es wird vermutet, dass ihr Sohn ein schweres Schädel-Hirn-Trauma und mehrere Rippenbrüche erlitten hat. Vermutlich hat sich eine Rippe in seine Lunge gebohrt." Clara schaute von ihrem Handy auf und blickte Frau Werner direkt in ihre gras-grünen Augen. Langsam wurde es leiser um Clara und sie konnte nur noch die Lippenbewegung der Polizeibeamtin wahrnehmen. Ihr Gedanken fuhren Achterbahn mit unzähligen Loopings und sie hatte das Gefühl, diese rasante Fahrt nie wieder anhalten zu können.

„Frau Larson?" Langsam kam Clara in die Realität zurück, als sie einen leichten Händedruck an ihrem Arm verspürte. Ihre Blicke huschten von Frau Werner zu dem muskulösen Polizisten und wieder zurück. „Wir müssen sie mitnehmen und sie bitten, ihren Sohn zu identifizieren." Wie befohlen, stand Clara langsam von ihrem Sessel auf. Alles was nun folgte, war rein mechanisch. Sie konnte nicht mehr bewusst wahrnehmen, wie sie sich Jacke und Schuhe anzog und mit den beiden Beamten auf mitfuhr.

Safe Hands - Wie weit der Wind dich trägt...Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt