Regungslos sitzt sie auf der Bank. Der Blick auf den Boden gesenkt, die Lider halb geschlossen, die kalten Hände in den Schoß gelegt. Ihr Atem geht flach und gleichmäßig ruhig. Der leichte Wind spielt mit ihrem Haar, lässt es sanft zur Seite wehen um es direkt danach wieder auf ihre Schultern sinken zu lassen.
Eine eisige Kälte umgibt sie, unterbrochen von einigen letzten Sonnenstrahlen des Tages in ihrem Gesicht. Dort, wo sie den Boden treffen ist der Schnee bereits weggeschmolzen. Vereinzelt treffen Wassertropfen rings um sie herum auf den Boden. Abgeschüttelt von den Tannen durch den Wind. Das Rauschen der hohen Nadelbäume dringt zu ihr durch, zieht durch den Gehörgang zum Gehirn und von da aus direkt ins Herz.
Eine warme Träne der Enttäuschung entrinnt ihrem Auge und versiegt gleich darauf auf ihrer kalten Wange. Weitere folgen aber sie reagiert nicht darauf. Wischt sie nicht weg, hält sie nicht auf. Einfach regungslos. Je länger sie sich nicht bewegt, desto mehr verschwindet das Gespür für ihren Körper. Wie abgeschnitten fühlt es sich an. Als ob Hände, Füße, Arme und Beine nicht mehr da wären. Dann gibt es nur noch Rumpf und Kopf. Man könnte meinen die Seele zieht sich zurück, besinnt sich auf das absolut notwendigste... Atmen. Selbst die Gedanken blitzen nur kurz auf, um gleich danach von den nächsten abgelöst zu werden. In diesen Zustand kehrt sie oft zurück, ist sie doch dann ganz für sich.
Die Sonne ist hinter den letzten Hügeln versunken. Golden Hour. Schon bald wird die Nacht ganz langsam durch den Wald herankriechen. So offensichtlich und doch schleichend wird sich die Dunkelheit um ihre Schultern legen. Ihr Rücken ist schutzlos, keine Lehne der Bank, keine Hütte im Rücken, keine Hecke hinter ihr. Nur die Weite des Waldes.
Heute möchte sie darauf warten. Es ist an der Zeit, sich zu lösen. Von dem Gedanken was passieren kann. Von dem Zweifel. Von den Gedanken die sie abhalten. Es ist an der Zeit dem gegenüber zu treten was man sonst meidet. Sich selbst zu beweisen, dass Grenzen keine Mauern sind. Und dabei nicht die Kontrolle zu verlieren. Heute will sie sich der Schwärze stellen, und sei es auch allein.
Wie oft war sie zu dieser Zeit längst wieder daheim, immer darauf bedacht zum Sonnenuntergang zurück zu sein. Hatte sich umgeschaut, mit offenen Ohren jedes Geräusch wahrgenommen und mit klopfendem Herzen analysiert. Aber heute wird sie die Kontrolle behalten. Wird sich nicht vertreiben lassen ehe die Nacht sie vollständig verschlungen hat. Der Zustand der Regungslosigkeit könnte ihr helfen, denn sie genießt es, wenn Arme und Beine nicht mehr da sind. Die Konzentration lenkt sie ganz bewusst auf das Vermeiden jeder noch so kleinen Bewegung.
Es ist gerade einundzwanzig Uhr durch. Die letzten Schimmer der längst versunkenen Sonne sind erloschen und abgelöst von dem Schein des Mondes, der nun zusammen mit den Sternen über sie wachen wird. Langsam hebt sie den Blick, öffnet Stück für Stück ihre Augen und legt den Kopf leicht in den Nacken. In der Hornhaut ihrer Augen spiegelt sich der Mond.
Ein ungutes Gefühl schleicht sich an sie heran. Kriecht langsam an der Bank herauf und umklammert sie von hinten. Vorsichtig bewegt sie ihre Finger, dreht die Handgelenke und nimmt die Arme vom Schoß. Tastet nach etwas in ihrer Jackentasche. Jetzt nur keine falsche Bewegung. Ein kleiner Trigger erregt die Aufmerksamkeit ihrer Gedanken und vertreibt das kribbelnde Unbehagen. Er wird ihr helfen, sich voll und ganz auf ihren Körper zu konzentrieren.
Endlich macht sich das Skilltraining bezahlt.... Insgeheim weiß sie, es wird ihm nicht gefallen, dass sie es benutzt hat. Aber wie heißt es so schön.... Missetat begangen.
Die nächtliche Einsamkeit und die anziehenden Temperaturen mahnen sie zur Einsicht. Sie muss ihren Körper bewegen, möchte sie keine Unterkühlung riskieren. Ohnehin ist es Zeit für Phase zwei. Im Schutz der Dunkelheit und doch vom Mond beobachtet trifft sie eine Wahl. Die steif gewordenen Gelenke strecken sich, der Körper wird wieder eins mit den Beinen. Schritt für Schritt entfernt sie sich von der Bank. Nur ein einziges Mal sieht sie sich um, nur ein einziges Mal erlaubt sie den Gedanken, analysieren zu wollen, ob jemand in der Nähe ist. Insgeheim hatte sie sich gewünscht er würde ihr doch folgen, könnte nun sehen, wie sie im Mondschein auf der Lichtung steht. Sich umsieht und ihre Wahl getroffen hat. Wie sich sich langsam umwendet, einen Weg bergab in den dichteren Wald fixiert und schlussendlich ohne sich noch einmal umzudrehen endgültig aus dem Mondschein in die Dunkelheit verschwindet.

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Storytelling
Short StoryKleinere und größere Stories rund um sensible Themen 😊 Manche sind wahr, andere vielleicht nur ein Traum. Nach meinem Buch "Dienstangelegenheiten" schreibe ich hier alles, was mir so durch den Kopf kommt. Have Fun 😊