Die Zeit wird mein Komplize sein

148 10 2
                                        

//Triggerwarnung: Vergiftung und Selbsttötung. Bitte lest mit Bedacht und brecht frühzeitig ab, wenn es zu viel wird.
Bewusst werde ich nicht verraten, um was genau es sich hier handelt, um keine Nachahmung zu provozieren! Bitte geht immer verantwortungsvoll mit Medikamenten und anderen Substanzen um. Der symptomatische Verlauf ist nicht fiktiv.//
Wenn ihr Redebedarf habt ist mein Postfach jederzeit offen! :)

 Ich bin dein Verstand... der dir jemanden zum reden gibt.
Ich bin dein Projekt... welches dich beschäftigt, um dich von anderen Fehlern abzulenken.
Ich bin die Lüge... die für dich lebt, sodass du dich verstecken kannst.
Ich bin ein Defekt... den man zu reparieren versucht. 
Ich bin ein Traum... aus dem ich hoffe zu erwachen.
Plötzlich weiß ich, dass ich nicht schlafe. 

Ich will mich nicht innerlich einsperren, will aber nicht wissen wie es sich ohne anfühlt. Ich möchte an meinem Kummer festhalten und ertränke doch den Willen zu fliegen. Liebling, ich vergebe dir... Finde ich doch immer wieder zurück zu dir, denn alles ist besser als diese Leere im Bett. Vergebe dir all deine Lügen, alle Enttäuschungen, dir du mir hast zuteil werden lassen. Die Halb- und Unwahrheiten, die Absagen, die Blamagen, die unbeantworteten Nachrichten. Vergeben sind deine Ausflüchte und dein abgrundtiefer Egoismus. Denn alles ist vorbei. Bald wirst du ohne mich sein.

Sonntag. 23 Uhr. Stunde Null.

Die Zeit läuft. Nachdem meine Disziplin so oft gescheitert ist, soll dieses Mal die Zeit für mich arbeiten. Der Anstoß zum Ende ist zu simpel um es zu verkacken. Achtlos hab ich die Verpackung auf den Boden geworfen. Sollst du doch wissen, was mich von dir wegbringt.
Als ich ins Bett sinke lächle ich in mich hinein. 
Morgen wird es mir schlecht gehen. Noch einmal durch die Hölle gehen um dann ganz schleichend zum Ziel zu gelangen. Mein Magen wird rebellieren, Erbrechen und Durchfall mich über den Morgen führen. Wenn es mir besser geht, werde ich noch einen letzte Tag mit Freunden verbringen. Auch mit dir. Stunde 12 zieht vorbei, und danach wird es mir gut gehen und nichts und niemand kann mich verraten. Solange ich nur den Mund halte, wie ich es schon so lange getan habe.
Wie lange ich abwarten muss weiß ich nicht. Aber spätestens nach achtundvierzig Stunden wird mein Körper anfangen zu kämpfen. Allein auf weiter Flur, denn was bringt es im zu kämpfen, wenn der Geist ihn nicht unterstützt? Das Fasten hat ihn schon geschwächt.

Am Mittwoch wirst du wiederkommen und mit deinem Schlüssel meine Haustür entriegeln. Nur Gott weiß, ob du es rechtzeitig schaffen wirst. Dieser Tag wird entscheidend sein und über Wohl und Wehe entscheiden. Die Zeit wird mein Komplize sein...
------------------------------------------
Am Montag Morgen hatte sie spuckend und würgend auf der Toilette mit dem Kopf in einem Eimer gehangen, nachdem sie von krampfartigen Bauchschmerzen geweckt worden war. Es schien als wolle ihr Körper alles Schlechte, was sie in sich hatte mit einem Mal loswerden. Dieser Zustand war nichts neues, hatten Stress und unregelmäßiges in sich hinein stopfen von Zeugs doch öfter solche Reaktionen zur Folge. Phase eins dauerte nur wenige Stunden, bis sich endlich Besserung zeigte...
Nachmittags war sie für eine kleinere Wanderung verabredet gewesen. Müde vom Morgen hatte Jessy ihr Auto am Wanderparkplatz abgestellt, die Schuhe geschnürt und den Rucksack geschultert. Die Bauchschmerzen waren verschwunden und sie fühlte sich viel besser.
Leos skeptische Frage, ob es ihr gut gehe und sie die Strecke wirklich durchziehen wolle, nickt sie kommentarlos ab. Es war ihm durchaus nicht entgangen, dass sie abgeschlagen und blässlich aussah, aber seine Einstellung verbot weitere Nachfragen. Wer nicht reden will, muss es nicht.
Kilometer für Kilometer liefen sie teils schweigend, teils quatschend durch die Natur. Ab und an ein Foto, eine Rast am Wegesrand, ein erhaschter Blick auf ein Wildtier. Ein Nachmittag an dem Jessy sich noch einmal richtig lebendig gefühlt hatte. Bis auf ihre Gesichtsfarbe hatte sie nichts verraten können. Es war kaum aufgefallen, dass die Kondition etwas geringer war als sonst. Etwas appetitlos hatte sie in einer Skihütte am Waldrand in einem Salat herumgestochert, während die anderen sich Schnitzel und Pommes einverleibt, und dazu literweise Bier getrunken hatten. Leo hatte sie verständnislos angeschaut, als sie nach zwölf Kilometern Fußweg lediglich Salat bestellte. *Alles gut?*, kam dann als Kurznachricht. *Ja.*, antwortete Jessy knapp. Und dann: *Freu mich auf Sofa*. Leo hatte ihr zugezwinkert. Es war schade, dass dies ihr letztes Treffen sein sollte.

Die folgende Nacht lang träumte sie wirres Zeug und wachte immer wieder auf. Gegen sechs Uhr in der früh plagten sie Gedanken. Was, wenn es doch zu wenig war? Hätte sie nicht längst wieder etwas spüren müssen? Auf die üblichen Schlafmittel hatte sie verzichtet, um die Wirkung nicht zu stören. Phase 2 hielt nun schon fast 30 Stunden an...
Es war Dienstag. Morgen sollte es doch schon soweit sein und bisher tat sich gar nichts. Der Tag verlief ereignislos. Ein bisschen Haushalt hier, ein bisschen Musik hören dort. Ein paar Chats mit Freuden, auch mit Leo.
Erst gegen Abend stellten sich endlich neue Anzeichen ein. Einen gemeinsamen Abend Leo hatte Jessy schon nachmittags , mit der Begründung, die Grippe zu bekommen. Das war nur halb gelogen, denn sie bekam Fieber. Beim Versuch sich zu duschen brach Jessy zum ersten Mal zusammen, bevor sich sich - nur ins Handtuch gewickelt - ins Bett schleppte. Das Handy schmiss sie auf das Sofa und beachtete es nicht mehr. 

Im Wahn des Fiebers schlug sie gefühlt zum tausendsten Mal die Decke weg. Ein Blick auf den Wecker bestätigte ihre Rechnung. Über Achtundvierzig Stunden waren rum und Phase drei damit endgültig abgeschlossen. Immer wieder wälzte sie sich hin und her und ihr Atem ging schwer. In Ihrem Körper führten die Organe einen erbitterten Kampf gegen den Eindringling und in den wenigen klaren Momenten sprach Jessy sich immer wieder diesen einen Satz: "Die Zeit wird mein Komplize sein." Sie wusste, wie weit es gekommen war. In den Morgenstunden des Mittwochs kam zum Fieber wieder Erbrechen hinzu. Der Weg ins Bad fühlte sich an wie eine Ewigkeit. Schwindel zwang sie, sich an Stühlen, Tisch und Türrahmen zu stützen.

Jessy mied den Blick in den Spiegel, konnte sich sich doch denken, dass sich die Augen gelblich verfärbten und ihr Gesicht nicht nur blass sondern auch gelblich wurde. Dieses Elend wollte sie sich nicht anschauen. Sie hatte diese Entscheidung getroffen... und zwar mit allen Konsequenzen.
Beim Versuch sich in die Toilette zu übergeben gaben Oberschenkel und Knie nach und sie fand sich auf dem weichen Teppich vor der Dusche wieder. Ihr Atem ging tief und schnell, das Herz schlug unerbittlich schneller um den fallenden Blutdruck zu kompensieren. Nerven und Hirn verlangten nach Sauerstoff und alles schmerzte.
Immer wieder verlor sie das Bewusstsein oder träumte und phantasierte. Die vorbeiziehenden Stunden erlebte sie kaum noch bewusst. Das Klingeln des Handys auf dem Sofa, die Klingel an der Haustür, das immer wiederkehrende Würgen bekam sie kaum noch mit. In ihrem letzten bewussten Moment sah sie blutiges Erbrochenes neben sich auf dem Teppich. "Bald bin ich frei... die Zeit ist mein Komplize.", sagte sie mit schwacher Stimme zu sich selbst bevor sie zum letzten Mal die Augen schloss. Arme und Beine erschlaffen und der Würgereiz flacht ab. Jessy liegt regungslos auf dem Boden des Bades und rührt sich nicht mehr.

Im Bad riecht es metallisch nach Erbrochenem und Aceton. Als sich der Schlüssel in der Haustür dreht und eine dunkle Stimme: "Baby ich bin wieder da, komm sag Daddy 'Hallo'" ruft, setzt ihr Atem aus. Vor der Haustür treffen Rettungsdienst und Polizei ein, Daddy hat die Verpackung gefunden. Aber Phase vier ist vollendet und dieses Mal hatte niemand vorzeitig etwas bemerkt.

Noch vor Mitternacht, vor Anbruch des Donnerstags ist das Fenster der Intensitvstation offen und Jessys Geist aus ihrem vergifteten Körper aufgestiegen. 

Die Zeit war ihr Komplize... 

StorytellingWo Geschichten leben. Entdecke jetzt