Jetzt wird alles anders....

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Manchmal steht man in seinem Leben und fragt sich, was daraus geworden ist. Wir verändern uns stetig, das steht außer Frage. Machen Rückschritte, drehen uns im Kreis, schlagen neue Wege ein, suchen nach Abkürzungen und machen auch wieder Fortschritte. Und irgendwann im Laufe des Lebens bleiben wir stehen.  Wir schauen uns um, schauen zurück, ziehen Vergleiche, schauen nach links und rechts. Lassen Dinge revue passieren und betrachten unsere aktuelle Position.
Genau das habe ich in den vergangenen zwei Tagen getan... Ich bin kurz in meinen Gedanken stehen geblieben und habe meinen Weg betrachtet, den ich hergekommen bin. Und habe mich einmal gefragt, was in der letzten Zeit aus meinem Leben geworden ist. 
Wer die vorherigen Kapitel gelesen hat, hat bereits vieles über mich erfahren. Einige Geschichten sind wahr, andere wiederum nur ein Produkt meiner Fantasie. Aber alle haben etwas gemeinsames: Sie entspringen meinen Gedanken und Gefühlen. 

Ziele zu erreichen ist etwas, was mich glücklich macht. Glücksgefühle wischen mit einem einzigen Mal die Schlammspur weg, durch die ich bis dahin manchmal gegangen bin. So auch vorgestern. Ohne mir ein konkretes Ziel der Höhe zu setzen haben wir uns einen weiteren Aussichtsturm in der Gegend vorgenommen. In Anbetracht meiner guten Laune hab ich das einfach auf mich zu kommen lassen. Der Weg zum Turm rauf war entspannt, sonnig und es ging mir gut. Selbst der Anblick des Turms hat mir dieses Mal keine Angst gemacht. Am Fuße der Treppe hat er mir eine Aufgabe gegeben, um meine Gedanken nicht abschweifen zu lassen: Stufen zählen. 
27....28....29....30. Stopp. Er ging vor mir, blieb auf der Wendeltreppe stehen und fragte mich wie es mir geht. Ich konnte tatsächlich ehrlich mit "gut" antworten. Also weiter...
48....49....50. Die ersten Plattform erreicht. Coole Sache. Kurz hab ich mich umgesehen und gedacht 'hey, knapp 10 Meter. Geil.' Und wieder kam die Frage nach meinem Befinden. Ich geniesse es, dass er bei mir ist und auf mich Acht gibt, während ich mich in die Höhe bewege. Und es ging mit auch hier immer noch gut. Da kam der Gedanke auf, dass es jetzt bis oben auch nicht mehr weit ist. 
Mit der letzten Stufe auf die ganz oberste Plattform hab ich eine Zahl gesagt und sie direkt wieder vergessen, weil ich in diesem Moment zum ersten Mal ganz bewusst die letzte Stufe ganz oben auf einem Turm betreten habe, und es mir dabei immer noch gut ging. Ich kann nicht von mir behaupten, dass ich mich direkt wohl gefühlt habe.... aber selbst wenn durch meine Gedanken oder die Windböen ein unangenehmes Gefühl aufkam, ich war nicht alleine und war mir wirklich dessen zum ersten Mal richtig bewusst, was ich hier gerade tue. Was ist das einfach für ein geiles Gefühl, sich mal auf die Aussicht konzentrieren zu können, ohne dass der Kopf verrückt spielt? Wahnsinn. Gut, daran beide Hände loszulassen arbeiten wir demnächst weiter, aber das sind Kleinigkeiten. Fakt ist doch einfach, ich habe es geschafft. Ja, das Mal davor war ich viel höher und auch ganz oben... aber in einer Lage, die nur schwer unter Kontrolle zu halten war. Und jetzt war es so.... beflügelt. Das hat mir Kraft gegeben. Die Nase in den Wind zu stecken, in die Ferne zu schauen und diesmal wirklich über die Täler zu schauen, Dörfer zu identifizieren und die Welt aus einer neuen Perspektive zu sehen. Und das mit jemandem in meiner Nähe, der mir Halt gegeben hat, wenn ich ihn brauchte und mir gezeigt hat, wie man sowas geniessen kann. Was um Himmels Willen ist in den letzten Wochen passiert? Woher kommt diese unglaubliche Kraft zu solchen Fortschritten??

Diese Kraft, die ich dort gesammelt habe, hab ich gestern dann gebraucht...
Es gibt Tage und Termine, die eine Wendung ankündigen. Wo ein Urteil fällt, eine Entscheidung getroffen wird, eine Diagnose gestellt wird. Wo man eine Frage beantwortet bekommt und diese Antwort das weitere Leben bestimmt. Für mich gab es auf die Frage zwei Antworten... Entweder hat sich der Kampf gelohnt und ich kann einen Stein aus meinem Päckchen abwerfen.... oder aber es ist noch nicht vorbei, sondern der steinige Weg geht weiter. So oder so bekomme ich einen Arbeitsauftrag für mein weiteres Leben. Die Frage ist nur, wie sieht dieser aus?
Ich hasse solche Termine, oder ich liebe sie. Kann sie kaum erwarten, will sie hinter mich bringen oder einfach am liebsten doch wieder absagen und nicht hinfahren. Aber wie soll ich Gewissheit bekommen, wenn ich mich der Antwort auf meine Frage nicht stelle?

Wie froh war ich, dass ich da nicht alleine hin musste. Er hat versprochen mich zu begleiten und somit stand ich dann kurz nach 6 Uhr morgens bei ihm in der Wohnung. Es war echt seltsam, in meinem eigenen Auto auf dem Beifahrersitz zu sitzen, aber immer noch besser, als so nervös wie ich war selbst zu fahren. Bis zur Autobahn hatten wir eine gute Stunde zu fahren, unterbrochen von einem Stopp bei einer Bäckerei zum Frühstück. Bis dahin liess es sich noch ganz gut aushalten, die Müdigkeit nach einer sehr schlaflosen Nacht war noch größer. Da ich nicht allein war, hatte ich eine Ablenkung und jemanden, der mit mir geredet hat oder mir meine Ruhe gelassen hat, wenn ich gerade nicht reden wollte. In diesen Stillen Momenten gab es nur meine Gedanken und die Musik aus dem Radio.
Irgendwann gab es diesen einen Punkt, wo meine Redseligkeit dann wohl endgültig verschwunden ist. Mir selbst ist es gar nicht so bewusst gewesen. Die Autobahn führte uns in eine deutsche Großstadt, wo ich meine Antwort bekommen sollte. Und mit jedem blauen Schild, was die kleiner werdende Entfernung bekundet hat, bin ich mehr im Sitz versunken und immer ruhiger geworden. Ich war mehrfach dort gewesen, hatte das alles doch zu meinem Weg beigetragen. Hatte drei Operationen dort gehabt und bei allen drei zusammen war ich nicht so nervös wie jetzt. Das ganze Jahr habe ich an mir gearbeitet, die ganze Zeit unter dem Schwert, ob ich genug tue. 
Es ist ein Wechselbad der Gefühle gewesen. Ich mochte am liebsten lachen, weinen, schreien und brechen gleichzeitig. Ich wollte da nicht hin aber doch endlich ankommen. Am liebsten sofort vom Parkhaus hinlaufen und doch erst gar nicht loslaufen. In der Stadt angekommen haben wir einen kurzen Abstecher zum Kanal gemacht. Ein kurzer Moment in dem wir aufs Wasser geschaut haben und ich einfach nicht allein da war. Ein kurzer Moment der Stille. Bis es Zeit wurde.... loszulaufen.

Es war ein Weg, den ich ganz am Anfang schon einmal gegangen bin. Damals, als ich eine Antwort auf die Frage haben wollte, was mit meinem Körper nicht stimmt und ob es einen Weg da raus gibt. Ein Weg aus Hoffen und Bangen. Voller Hoffnung und Vorfreude. Und ein bisschen Wehmut. Denn eine positive Antwort für mich bedeutet das Ende der Zusammenarbeit mit einem Klinikteam, was mir einen Weg bereitet hat, das mir ein neues Leben gegeben hat.
Das mir so bekannte Gebäude tauchte vor uns auf und ich wiederholte in Gedanken einen Satz, der mir morgens während einer festen Umarmung gesagt hatte: "Ich bin bei dir, du bist nicht alleine."
Egal, was gleich passiert, er wird unten vor dem Gebäude auf mich warten. Wenn ich weine tue ich es nicht allein, wenn ich mich freue kann ich es mit jemandem teilen. Aber die letzten Meter im Flur hinter der weißen Tür musste ich allein gehen. Es folgten eine Reihe an Tests und Untersuchungen und ein langes Gespräch mit dem Chirurg, der mich behandelt hatte.

Dann zeigte er mir Fotos. Fotos von meinem alten Körper, wie er bei dem allerersten Mal in diesem Gebäude aussah. Zusammen haben wir in diesem Gespräch das vergangene Jahr nach den Eingriffen revue passieren lassen. Was hat sich verändert? Was ist mit Körper und Geist passiert? War die Entscheidung die richtige? Hat sich der Kampf ausgezahlt? Ist es vorbei?
Dann machte er neue, aktuelle Fotos in den gleichen Positionen und bat mich wieder zum Monitor. In diesem Moment habe ich mich innerlich von diesem alten Ich verabschieden können. Und ohne, dass er etwas sagte, hatte ich meine Antwort, die ich so erhofft hatte. Es ist vorbei. Ich habe es geschafft, die Chance auf eine lebenslange Symptomfreiheit zu haben. Die Veranlagung im wird bleiben, aber jetzt aktuell ist es weg und wird zu 99% an den operierten Körperstellen nicht wiederkommen. Und nur das zählt.
 Den Unterschied zwischen den Fotos zu sehen, mir bewusst zu machen, was sich getan hat und die endgültige Gewissheit, durch ihn danach bestätigt, dass ich es geschafft habe.... Das Gefühl ist einfach unbeschreiblich. Das was mir so viel Probleme, Schmerz und Sorgen bereitet hat ist einfach wirklich weg. 
Wie weggewischt fällt der schwere Mantel ab und der Satz zum Abschied wird mir noch lange im Gedächtnis bleiben: "Die Stufen, die Sie jetzt die Treppe runter gehen sind die Stufen in ein neues Leben." Und das sind sie wirklich. 
Unten vor der Tür kamen dann doch noch die Tränen und es tat unglaublich gut, diese Erleichterung und das Gefühl des Glücks mit jemandem teilen zu können. Oft habe ich überlegt, was ich tue, wen es wirklich weg ist. Jetzt weiß ich es. Mein Leben genießen und die Freude darüber mitnehmen, in neue Projekte und neue Fortschritte legen. 

Ich habe jetzt Gewissheit und die Chance durchzustarten. Jetzt wird alles anders.... 

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