Nichts im Leben ist umsonst

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Triggerwarnung! Diese Story basiert auf realen Ereignissen und beschreibt die subjektiven Empfindungen der erzählenden Figur. 

Nichts im Leben ist umsonst. Selbst der Tod kostet das Leben.

Professionelle Distanz erfüllt den Raum. Aus einem der Nachbarzimmer dringt ein Schluchzen zu uns herüber. Durch die Fenster erhellen die blauen LED-Lichter des Rettungswagens rhythmisch die bunt beklebten Wände des Raumes. Poster an einer gelb gestrichenen Tapete, ein Bett aus hellbraunem Holz, Schreibtisch, Stuhl und zwei Bücherregale. Ein aufgeschlagenes Mathematik-Übungsbuch für Oberstufen liegt auf dem Schreibtisch, daneben eine Stifttasche und ein halb volles Glas Wasser. 
Nichts von alldem deutet auf das hin, was sich vor wenigen Stunden hier abgespielt haben musste...

Es ist Nachmittag. Leo und ich haben wieder zusammen Dienst auf dem RTW der Außenwache und hüten angestrengt das Sofa. Zu Mittag hatten wir gekocht, wie wir es immer tun, sodass wir seitdem mit Spaghetti Bolognese vollgefressen vor dem Fernseher liegen. Leichte Kopfschmerzen machen sich bei mir breit.... Gerade als ich aufstehen will, um mir flüssigen Nachschub aus dem Getränkevorrat in meinem Spind zu holen ertönt das wohlig verhasste Piepsen des Melders und kündigt einen Einsatz mit Sonderrechten an. 
"Murphys Gesetz hats wieder voll auf uns abgesehen.", brummt Leo, als er sich stöhnend vom Sofa erhebt. Innerlich verdrehe ich die Augen, klappe die Melderhülle auf und beginne zu lesen. Zeitgleich mit meinem Gedanken spricht Leo es aus: "Scheiße." 
Während ich die Treppe zur Fahrzeughalle herunterlaufe ditschen meine Blicke immer und immer wieder zwischen Melder und Treppe hin und her, und je öfter ich den Text lese, er verändert sich leider nicht. Es geht in den Nachbarkreis, vermutlich ein Privathaushalt. Der Adresse folgen nähere Informationen. "19j, weiblich, Suizidversuch, näheres unklar."

Während der Anfahrt gehen mir tausend Gedanken durch den Kopf. Leo spricht sie wieder aus: "Was glaubst du? Schaffen wir das noch?" "Ich weiß es nicht...", gebe ich zurück. "Das kommt drauf an, wie sie es versucht hat. Tabletten wären fast noch die einfachste Variante." "Oder das klassische Blutbad.", Leo ist gut darin, die unschönen Dinge nett zu umschreiben. Ich gebe ihm Recht. "Schubladendenken, aber du könntest Recht haben... Das NEF kommt garantiert nach uns an.", gebe ich hinterher. In der Einsatz-Depesche im Tablet des Fahrzeugs können wir die zugeordneten Fahrzeuge sehen. Das NEF kommt zwar aus dem Nachbarkreis, hat aber noch eine längere Anfahrt als wir. Scheiße! 
Leo überholt laut fluchend einen LKW, der nicht weiß wohin mit seinem Sattelauflieger, während ich mich bei der Nachbarleitstelle anmelde. "Für Sie, nach erneutem Anruf weitere Info: Suizidversuch durch Erhängen.", tönt es aus dem Funkhörer. Ich quittiere diese Info mit einem knappen: "Verstanden." Gleich darauf wiederholt das NEF meine Quittung. Mit Blick aufs Navi ziehe ich mir Handschuhe an und setze die Maske auf die Nase.

Vor dem Haus erwartet uns eine völlig aufgelöste, heftig winkende Frau. Kaum ausgestiegen ziehen wir Rucksack, Sauerstoff, Monitor und Absaugpumpe aus dem Seitenfach und folgen der Frau zügig ins Haus. Sie redet ununterbrochen doch unter ihren Tränen verstehen wir kaum ein Wort. 
Häufig bekommen wir gesagt: "Ihr seht so viel, ihr seid doch bestimmt abgestumpft." oder "Ihr seid doch immer auf sowas vorbereitet." Natürlich haben wir Dinge, Situationen und Menschen gesehen, wie kaum ein anderer sie sieht. Natürlich bekommen wir grobe Informationen und wissen ungefähr, was uns erwartet. Aber in manchen Situationen kann man sich einfach nicht ausmalen, was da auf einen zu kommt. Manche Situationen liefern einfach Bilder die sich einbrennen. Die wie ein Stempel auf der Netzhaut bleiben und auch nach Monaten noch nicht verschwunden sind. So wie das, was uns hinter der letzten Tür des Flures erwartet.
Leo zieht die Frau zurück, nachdem sie die Tür des Raumes aufgestoßen hatte und weist sie an, draußen die nachrückenden Kollegen einzuweisen. Kurz scannen meine Augen den Raum und bleiben dann in der Mitte des Zimmers hängen. Etwa 20 Zentimeter über dem Teppich baumeln braune Hausschuhe, darin stecken schwarze Socken und eine graue Jogginghose. Darüber ein rotes Top, auf das blonde Haare fallen. Ein leeres, blasses Gesicht mit halboffenen Augen starrt ins Leere. Aus dem Nacken führt ein Seil hoch zur Deckenlampe. 

Dieser Anblick ist nicht das erste Mal, dennoch dreht sich mir insgeheim immer noch der Magen um. Leo ist größer als ich und stützt den leblosen Körper, während ich auf den Schreibtischstuhl steige und mit der Kleiderschere aus dem Rucksack das Seil durchtrenne. Das Mädchen sinkt zu Boden und direkt ist erkennbar, dass die Leichenstarre noch nicht eingesetzt hat. Leo tastet nach dem Puls während ich den Monitor anschließe und alles für eine Reanimation vorbereite. Wir verstehen uns blind und bis auf wenige Kommandos arbeiten wir automatisch. Wie befürchtet tastet Leo weder am Handgelenk noch am Hals einen Puls und wir beginnen mit der Wiederbelebung. Der Monitor zeigt keine elektrische Aktivität mehr an. Wir wissen beide, dass das nur noch pro forma ist, bis der Notarzt eintrifft. Unsere Anfahrt lag schon bei fast 18 Minuten, wer weiß, wie lange sie schon hing, bis die Mutter sie gefunden hat. 

Bei Eintreffen des Notarztes erfolgt nur eine kurze Übergabe, dann probieren wir noch gut 20 Minuten das, was eigentlich nicht mehr möglich ist. Den leblosen Körper irgendwie ins Leben zurück zu holen. Schlussendlich geben wir es auf. Die Pupillen sind starr, reagieren nicht mehr auf Licht. Ich mache den Fehler, ihr in die Augen zu sehen, das Gesicht anzuschauen. 
Unsere Aufgabe beschränkt sich jetzt auf etwas, was ich persönlich nicht gut kann. Angehörigenbetreuung. Deshalb beginne ich, das Protokoll auszufüllen. Zeitgleich wird die mitalarmierte Polizei eingeweiht, die Kabel von der Leiche entfernt und der Notarzt überbringt der Mutter die Todesnachricht.
Bald wird die Kriminalpolizei hier sein, die Familie des Mädchens heim kommen, Seelsorger vor Ort sein und schlussendlich ein Bestatter die sterblichen Überreste abholen. 
Unser Job ist hier beendet und doch möchte ich noch nicht, dass es für uns weitergeht. Draußen am Auto stehen wir einen Moment schweigend im Schein der Außenbeleuchtung. Ich frage Leo: "Alles klar?", er nickt nur. "Bei dir?" "Auch." Ich hasse diese Situation. Wir wissen beide, dass das für uns eine beschissene Situation ist und doch sind wir beide so stark, das an uns vorbeigehen zu lassen. Professionell bleiben, aufrüsten, frei melden. Den Dienst fortführen und das Schicksal eines anderen Menschen hinter uns lassen. 
"Person verstorben, NEF verbleibt an der Einsatzstelle, wir schalten zurück auf Heimatkanal.", gebe ich eine knappe Meldung an die Leitstelle. Man wünscht uns einen ruhigen Restdienst und bedankt sich für die Hilfe.

Mit dem Bestätigungston des Funkgerätes, dass wir im Heimatkanal sind, lassen wir den Ort, den Nachbarkreis und damit auch das Schicksal des Mädchens hinter uns. Sie hat es sich selbst gewählt und wir haben sie nicht retten können...
Wir können nicht jedes Leben retten, aber wir retten jedes Leben, welches wir retten können.
Nichts im Leben ist umsonst. Selbst der Tod kostet das Leben. 

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