Rückzug

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Rückzug. Ein Begriff mit Facetten. 
Rückzug von einer Gefahr, in einen sicheren Bereich. 
Rückzug von der Gesellschaft, zum Schutz vor Spott und Häme.
Rückzug von einem Problem, nicht etwa weil man es lösen konnte. Eher als Zeichen von Aufgabe.
Rückzug von Gedanken, von Orten, Menschen oder Situationen. 
Viel eher hätte ein Rückzug die Wahl sein sollen. Viel eher hätte es noch Leben retten können, eine falsche Entwicklung verhindern können. Einiges wäre wahrscheinlich nie passiert. Worte nie gesagt, Taten nie getan, Verletzungen nie zugefügt, Narben nie entstanden. Charakterzüge nie entwickelt. Die hunderte Scherben, würden nicht zum Aufkehren bereit am Boden liegen.

Ein kalter Wintertag, mitten am Nachmittag auf einem angefrorenen Waldweg mit dem letzten gefallenen Laub. Knirschend splittert das Eis der zugefrorenen Pfütze unter der Last der Schuhe, die sie betreten. Zügig bewegen sie sich Meter für Meter vorwärts. Dem leichten Schneefall trotzend haben sie schon mehrere Kilometer zurückgelegt. Gleichmäßige Spuren im Schnee zeugen von der Anwesenheit eines Menschen an diesem Ort. Zumindest für die nächsten paar Stunden. 

Mit einem leisen Klicken fällt die Wohnungstür ins Schloss. Klimpernd schaukelt der Anhänger des Schlüssels gegen die Haustür, bevor er mit Schwung zu Boden geworfen wird. Daneben landet achtlos eine schwarze Winterjacke, darauf eine schwarz-weiße Mütze und ein schwarz-weißer Schal. Die Schneenassen Schuhe parken auf der Fußmatte. Einzelne Wassertropfen rinnen herab und verschwinden in den Baumwollfasern. 
Lautes Wasserrauschen durchbricht einen Moment der Stille, bevor die Haustür ein zweites Mal geöffnet wird. Neben den noch tropfenden Schuhen finden schwarze, dicke Winterstiefel ihren Platz. Schuhgröße 45. Das Knarren der Badezimmertür kündigt es an. Dem Rauschen des Wassers wohnt eine dunkle Stimme bei, kalt und eindringlich. Über den Boden schabend öffnet sich die Duschtür und gibt ihm den Weg frei. Die leise, helle Stimme verliert ihren Klang, das Rauschen des Wassers verschluckt sie.

Bald werden die Spuren verschwunden sein. Allee Spuren verschwinden irgendwann. Im Radio wurde stärker werdender Schneefall gemeldet. Vielleicht reicht eine, vielleicht zwei oder drei Stunden um den sichtbaren Wegweiser verschwinden zu lassen. Bis dahin ist zu hoffen, dass die Umwege ihren Dienst tun und eventuelle Anhänger vorerst auf Abstand halten. 
Noch wenige Wegkreuzungen trennen von dem Platz, der bisher immer als Rückzugsort gedient hatte. Nicht besonders schön, sodass man nicht davon ausgehen musste von dahergelaufenen Wanderern gestört zu werden. Eine einfache Lichtung, weit ab vom nächsten Ort, auf dem direkten Weg vom letzten Wanderparkplatz mindestens eine Stunde zu Fuß entfernt. Mit einer Sitzgelegenheit umschlossen von dichten Tannen und Sträuchern. Wenn das Gras im Sommer satt grün leuchtete war der Aufenthalt hier immer besonders schön gewesen. Doch auch jetzt im Winter erschien sie regelmäßig auf der Bildfläche. Meist um die Abgeschiedenheit zu genießen.. Die ungestörte Einsamkeit.

Das Rauschen des Wassers verstummt und das bekannte Schaben auf dem Duschboden verrät, dass es vorbei ist. Wieder ist die dunkle Stimme zu hören, kurz drauf knarrt die Badezimmertür und zwei Füße mit Schuhgröße 45 betreten den Hausflur. Sie biegen rechts ab und entfernen sich mit dem Knarzen der Holztreppe nach oben. Ein lauter Knall bestätigt, dass die Schlafzimmertür nun zu ist. Erst zaghaft, dann wieder in bekannter Lautstärke prasselt das Waser auf den Steinboden der Dusche, träge Seifen- und Shampooreste zum Abfluss... und damit die fließenden Tränen und zerrütteten Gefühle.

Kalte Hände reiben sich aneinander, in der Hoffnung auf Wärme. Während der Nebel aufzieht und die Abenddämmerung bereits herannaht, der Mond sich längst gezeigt hat werden die Gedanken immer klarer. Worte und Augenblicke verschmelzen zu einem Ganzen. Anfangs war es die Vertrautheit, später die Dankbarkeit für die Hilfe. Das offene Ohr, die gereichte Hand. Die Hilfe zu gehen und zu lernen. 
"Ich zeige dir alles, was du wissen musst."
"Ich will nur dein Bestes."
"Das würde mir gefallen."
"Dir gefällt das doch, ich weiß das."

Bis zu diesem Tag, als er sie im Bad überrascht. Mochte es nur Zufall sein, ist er doch im passenden Moment da. Kalte Erinnerungen an seine Stimme: "Ich zeig dir was."
Wie er zu ihr in die Dusche steigt, sie berührt, überall wo ER es möchte. "Du bist das, was ich mir gewünscht habe." Ja, er liebte ihren Charakter, aber mehr und mehr auch ihren Körper. 
Noch immer spürt sie den Druck. Die Angst vor der Dunkelheit drückt auf ihre Schultern, so wie seine Hände sie auf die Knie drücken. Vor ihm kniend, ungewiss was nun zu tun ist führt er sie an sich heran: "So machst du mich noch ein Stück glücklicher."

Die Spuren im Schnee sind zugeschneit. Ungewiss, wie lange die Kälte sie im Griff hat ist nun eines Gewiss: Niemand wird ihr jetzt noch hierher folgen. Niemand wird sie belästigen. Bis endlich alles aus ihrer freien Entscheidung geschehen soll. 

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⏰ Letzte Aktualisierung: Dec 05, 2022 ⏰

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