Es widert mich so an. Dieses Elend jeden Tag aufs neue zu sehen. Dieses Bild vor Augen zu haben. Wie jeden morgen stehe ich vor meinem Spiegel im Schlafzimmer und möchte ihn am liebsten zerschlagen... Den Spiegel zerschlagen und mit den Scherben wegschneiden, was ich jeden Tag anschauen muss. Nichts ekelt mich mehr, als jeden Tag mein eigenes Ich im Spiegel anzuschauen. Tagtäglich wird man überall mit dem Abbild der perfekten Frau konfrontiert. Cremes, Make-Up, Klamotten und was nicht noch alles beworben wird. Überall geht es um Beauty, Figur und Haare. Ich kann den Scheiß nicht mehr sehen......
Überall wird einem suggeriert, dass man mit sich zufrieden sein soll, wie man ist. Aber die Realität sieht nun einmal anders aus. Bodyshaming ist an der Tagesordnung und die Waage wird zum Endgegner.... meinem Endgegner!"Hast du gar keinen Hunger?", fragt Leo mich, als wir bei einer Tasse Tee im Gemeinschaftsraum der Wache sitzen. Beherzt greift er in die Keksdose auf dem Tisch.
"Nein, mir reicht die Tasse Tee aus. Ich hatte in gutes Frühstück.", lüge ich ihn an. Es war am Anfang schwer, aber mittlerweile haben die die Lügen wie eine Mauer manifestiert, sodass sie mir ganz leicht fallen. Heute hatte ich nichts zum frühstück, genau wie an allen anderen Tagen. Und auch das Mittagessen würde später lediglich aus einer Gurke und vielleicht noch ein paar Tomaten bestehen. "Also ehrlich, mit den kleinen Portionen würde ich nicht überleben.", Leo grinst und schiebt sich noch einen Keks in den Mund. Ich quittiere das mit einem Schmunzeln.
Beim Mittagessen zwinge ich mich dann sogar, noch eine Banane zu essen, weil Leo mir argwöhnische Blicke zuwirft. Ich weiß, was das für mich bedeutet. Und in diesem Moment verfluche ich, dass wir nur zwei Mitarbeitertoiletten haben. Während die anderen noch in ihrer Pause sitzen versuche ich mich möglichst unauffällig zur Toilette zu begeben. Noch vor wenigen Wochen musste ich ewig herumexperimentieren, bis es endlich klappte, aber heute reicht ein Druck in den Magen, ein Finger im Rachen und nach nicht einmal 10 Minuten in meinem Körper ist die Banane wieder draußen. Das ganze möglichst leise hinter mich zu bringen hab ich leider noch nicht gelernt.
Als ich die Tür aufmache steht Leo im Flur und schaut mich mit einem Blick an, den ich nicht einordnen kann. Dann will er etwas sagen, aber ich drehe mich weg, bevor er loslegen kann.
Bis zum Dienstende gebe ich ihm nicht die Chance, mich ohne Kollegen um uns herum anzusprechen.
Zügig packe ich gegen 15 Uhr meine Klamotten zusammen und verlasse dann pünktlich zum Dienstende die Wache. Mein Weg führt mich direkt nach Hause, ohne einen Umweg. Dort angekommen folgt immer das gleiche Ritual.... Ins Bad, sämtliche Kleidung und Schmuck ablegen und nach einem Toilettengang auf die Waage.
78,01 Kilogramm. Bei einer Körpergröße von 167cm und mit errechneten 56kg Muskelmasse ist das doch eigentlich nicht schlimm. Mich aber ekelt mein Körper an. Schon seit Monaten tut jeder Gang auf die Waage weh. Es wird und wird nicht weniger.
Am Anfang hatte das so gut funktioniert. Ich hatte das Essen reduziert und Sport getrieben. Hatte von 92 Kilo auf 80 reduziert. Aber irgendwann hab ich die Kontrolle verloren. Mein Körper schreit nach Essen, wenn ich teilweise über zwei oder drei Tage nichts oder nur Gurke esse. Dann werde ich wieder schwach und topfe alles in mich hinein, was mir in die Hände fällt. Danach fühle ich mich elend und egal wie wenig ich auch gegessen hatte, verspürte ich den Drang mich zu übergeben oder abzuführen, sobald ich die Waage betreten hatte.
So auch jetzt.
Nachdem ich mich wieder angezogen habe bereite ich in der Küche Glaubersalz in Wasser gelöst vor. Es schmeckt absolut ekelhaft... Danach habe ich etwa eine Stunde Zeit bis ich wieder ins Bad muss. In dieser Zeit kann ich mich ganz und gar in meinen Gedanken untermalt mit meiner Musik versenken. 'Hey, heute Abend noch Lust eine Runde zu schwimmen?', eine Nachricht ploppt an meinem Handy auf. Sie ist von Leo. Sport hatte ich heute eh noch vor.... 'Ja, bin dabei. 18 Uhr?' 'Passt!', kommt zurück.
Eine Weile liege ich auf meinem Sofa und lausche einer Playlist auf Spotify, die ich bei schlechten Gedanken immer mal wieder erweitere. Bald schon stellen sich Bauchschmerzen ein, dann wird es Zeit, sich zur Toilette zu bewegen.
Bald darauf dürfte nun nichts mehr an Nahrungsresten in meinem Körper sein...
Zum Schwimmbad werde ich heute laufen. Die gute halbe Stunde Fußweg könnte mir wirklich gut tun. In meinen Rucksack packe ich Shampoo, Duschgel, zwei Handtücher und meinen Badeanzug. Auf Essen verzichte ich selbstverständlich ganz bewusst, lediglich eine Flasche Mineralwasser findet den Weg in mein Schwimmgepäck. Gegen 17:20 Uhr verlasse ich mit einem letzten Blick auf die Waage durch die Badezimmertür das Haus. Morgen wirst du weniger anzeigen, koste es was es wolle!
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Storytelling
Kısa HikayeKleinere und größere Stories rund um sensible Themen 😊 Manche sind wahr, andere vielleicht nur ein Traum. Nach meinem Buch "Dienstangelegenheiten" schreibe ich hier alles, was mir so durch den Kopf kommt. Have Fun 😊