Nie. Niemals. Immer

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Kapitel 26 Nie. Niemals. Immer

Ich schaue zu dem Stapel, der fast unschuldig wirkend neben den Telefonlisten liegen, die Moore mitgebracht hat und mein Herz hüpft, weil ich ganz genau um ihre Brisanz weiß. Es folgt ein elektrisierendes Kitzeln, welches sich sowohl unangenehm wähnt als auch im selben Augenblick anregend ist. Es beginnt auf meinen Unterarmen und arbeitet sich zu meinen Händen vor. Aber auch in die entgegengesetzte Richtung hinauf zu meinen Schultern. Wie tausende kleine Wellen. Intensive Impulse voller rauschender Regung. Mit jedem Zentimeter, den sie über meine Glieder streichen, wird das Gefühl stärker. Fast brennend.

Ich stoße mich von der Arbeitsplatte ab und bleibe beim Tisch stehen. Statt nach den Briefen, greife ich die benutzten Tassen und stelle sie in die Spüle. Moores Becher ist unberührt, meiner zur Hälfte leer.

Erneut huscht mein Blick über den Stapel Papier, so als gäbe es eine unsichtbare Anziehungskraft, die einfach nicht zulässt, dass es unbeachtet bleibt. Auch mein Herzschlag wird von Sekunde zu Sekunde lauter und dröhnt durch meinen Körper wie Donner. Es ist ein deutliches Zeichen. Das Geräusch ist so laut, dass es mich einfach nicht zur Ruhe kommen lässt und sich mit den unstetigen Gedanken vereint, die durch meinen Kopf schwirren. Gleichwohl fühlt es sich an, wie ein Vakuum, abgeschlossen und dicht, aus dem die Fragen einfach nicht entweichen können. Es schürt die Frustrationen, denn so finde ich keinerlei Antworten und keine Klarheit. Mache ich es richtig, wenn ich Richard ausschließe und mich zurückziehe? Ist es dafür nicht längst zu spät? Finde ich die Antworten nicht eher bei ihm? Doch wer will den Keil zwischen mir und Rick? Wer profitiert davon, dass ich mir vor Unsicherheit das Gehirn zermartere? Wer will mich bestrafen? Richard hätte nichts davon. Genauso, wie der alte Mann. Ich bin mir zwar nicht sicher, wie weit ich Moore wirklich trauen kann, aber er hat keine Gründe, diese Dinge zu tun, denn er weiß bereits mehr als jeder andere und ihm erwächst daraus keinerlei Vorteil.

Mit einem schweren Seufzen falle ich auf den Stuhl zurück, auf dem zuvor der Detective gesessen hat. Mein Kopf kippt seitlich gegen die Wand und ich schließe die Augen.

Ich weiß nicht, wie lange ich dasitze und dem Rauschen meiner Gedanken lausche. Augenscheinlich so lange, bis das kontinuierliche Rieseln und Überschlagen jener zu einzelnen Wörtern und Bildern werden. Sie formen sich zu ganzen Gesprächsfetzen aus der Vergangenheit, Sequenzen und Segmente aus dem Hier und Jetzt, die mich ungewollt begleiten. Meistens kommen sie unsortiert und in keinem Zusammenhang und füllen mein Herz und meinen Verstand mit mannigfaltigem Gefühl. Die letzten Wochen lasten schwer auf mir, trotz und wegen Richard. Ihn wiederzusehen ist reines Glück und unendliches Chaos. Ich hatte es mir ausgemalt, immer dann, wenn die Wände im Gefängnis näher zukommen schienen, wenn mir langsam die Luft zum Atmen fehlte, weil sich das Gefühl der Schwere auf meiner Brust nicht mehr bändigen ließ. Ich habe mir vorgestellt, wie ich mich in seine Armen bette und die Welt um uns herum verschwimmt, sodass jeder Gräuel zur Humoreske zerfällt. Der Gedanken an Richard hatte mich befreit. Er hielt mich am Leben.

Die ausgedruckten Telefonlisten liegen direkt vor mir und ich ziehe sie zu mir heran, ohne mich vorzubeugen. Mein Zeigefinger malt ein paar Kreise auf das raue Papier. Erst kleine, die immer größer werden bis ich zwei Finger nutzen muss, damit das Blatt nicht verrutscht. Von weitem wandern meine Augen über die Zahlenreihen, stoppen kurz bei den bekannten Ziffern von Richards Telefonnummer und das nicht nur, weil sie orange markiert sind. Sie ziehen mich förmlich an. Jemand hat Richards Nummer gewählt, von der Telefonzelle vor meiner Wohnung aus. Mehrmals. Das ist der Fakt. Die Gespräche waren nie sehr lange, das zeigen die dahinter abgebildeten Zeiten. Ein paar Mal dauerten sie nur wenige Sekunden lang, was daraufhin deutet, dass Richard den Anruf nach dieser Zeit beendete. Dreimal wurde die Nummer gewählt, aber es kam kein Gespräch zustande. Ob es die Tage waren, an denen er hier gewesen ist? Ich bin mir nicht sicher. Die letzten Wochen verschwimmen in meinem Kopf zu einer gräulichen Masse. Es ist so viel passiert. So viel, was ich nicht verstehe. Wieder wandern meine Augen zu dem Stapel Briefe. Diesmal greife ich nach ihnen. Doch ich öffne sie nicht sofort, sondern führe sie dichter an meine Nase heran. Es ist irrwitzig, denn nach all den Jahren haftet ihnen einzig der Geruch der Gegenwart an. Sie riechen nach Moores Jackeninnentasche, die mit Salbeihustenbonbons gefüllt war. Ich vernehme den süßlichen Hauch, der mich an die Krankentage meiner Kindheit erinnert. Den Salbeitee habe ich nie gemocht, aber die Bonbons sehr. Ich nehme einen weiteren Zug und lächele. Die Vergangenheit. Sie gibt mir so viel Freude und gleichzeitig Leid. Im Moment überwiegt das eine und ich kann es dennoch nicht loslassen.

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