Die Fähigkeit zur Integration

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Kapitel 4 Die Fähigkeit zur Integration

Noch im Flur ziehe ich mir die Kleidungsstücke über den Kopf, lasse sie achtlos fallen und stelle mich unter die Dusche. Das zunächst kühle Wasser trifft fast warnend auf meinen Körper. Ich spüre es kaum. Ich stemme meine Hände gegen die ebenso kalten Kacheln und lehne meinen Kopf in den eisigen Strahl des Wassers. Ein Keuchen entflieht meinen Lippen und nach und nach merke ich, wie das Wasser wärmer wird. Erst als es heiß über meinen Nacken läuft, blicke ich auf und drehe am Regulierer. Ich lasse mir etwas Flüssigkeit in den Mund fließen, merke, wie es über meine Lippen und über meinen Hals läuft. Die Härte des Wassers kitzelt auf meiner Zunge. Es ist kalkhaltig und schwer. Die Rohrleitungen der Wohnung sind nicht mehr die Neusten.

Ich neige meinen Kopf wieder nach unten, halte meine Augen geschlossen und genieße die Wärme auf meiner Haut. Das Wasser perlt meinem Rücken und meine Beine hinab. Ich spüre, wie es meine Oberschenkel entlang fließt. Stellenweise fein kitzelt. Ich mag das Gefühl.
Eine ganze Weile stehe ich einfach nur da, lausche dem Geräusch des fließenden Wassers, fühle die Wärme. 

Nur mit dem Handtuch um der Hüfte lasse ich mich auf das Sofa nieder, schließe die Augen und sehe Richards Gesichtszüge. So wie oft in der letzten Zeit. Sein Kinn und die Wangen sind bedeckt mit leichten Stoppeln. Die Farbe seiner Lippen. Ich erinnere mich nicht an ihren Geschmack. Süß? Herb? Vielleicht eine Mischung aus beidem? Die Vorstellung schickt ein erregtes Kribbeln durch meinen Leib. Die Erinnerungen an unsere intimen Momente blitzen auf. Unschuldig und ohne Erwartungen. Wir haben es einfach nur gewollt, ohne über Konsequenzen und Normen nachzudenken. Ein Keuchen flieht von meinen Lippen, das in der Stille des Zimmers verhallt. Als wäre es nie da gewesen.

Ich öffne meine Augen, lasse meinen Blick wandern und sie haften sich an das rote Blinken am Telefon. Ich spüre, wie mein Puls beschleunigt. Doch es ist nicht das Pulsieren voller Aufregung und positiver Erregung. Es ist allein der Unruhe geschuldet, die sich in mir ausbreitet. Nicht schon wieder. Was soll das?

Ich setze mich aufrecht und starre einen Moment auf das rote Licht. Was werde ich diesmal hören? Zurückhaltend robbe ich über die Couch zum Telefon und nehme den Hörer ab. Noch während ich den Knopf drücke, schlucke ich. Die Ansage über eine nicht abgehörte Nachricht dringt an mein Ohr. Das Piepen und ich spüre, wie sich mein gesamter Körper anspannt. Ich halte die Luft an. Wieder ein Rauschen. Für mich fühlt sich Stille, wie eine unendliche Ewigkeit an, auch wenn es in Wirklichkeit nur einige Sekunden sind.

„Eleen? Hier ist Ewan." Erleichtert atme ich aus und lasse mich in die gemütlichen Kissen meiner Couch zurückfallen.

„Ich habe dich nicht erreicht. Ich wollte nur wissen, wie es dir geht und dir Bescheid sagen, dass ich mit deinem Bewährungshelfer gesprochen habe. Er hat mich angerufen. Er war besorgt, weil du beim letzten Termin etwas abwesend gewirkt warst. Melde dich bitte bei mir. Wir müssen darüber reden." Ewans Stimme beruhigte mich zu Anfang, doch als er meinen Bewährungshelfer erwähnt, merke ich erneut, wie sich meine Muskeln anspannen. Das kann doch nicht wahr sein. Reden bedeutet bei ihm nichts Gutes. Ich schalte das Telefon aus und lasse es zu Boden gleiten. 

Abwesend. Habe ich wirklich abwesend gewirkt? Ich lasse das Gespräch Revue passieren. Doch ich weiß nicht, was ihm schlecht aufgestoßen sein kann. Ungläubig sehe ich zur Decke und fahre mir durch die Haare. Ich dachte immer, dass ich meine Mimik und die Art und Weise, wie ich nach außen hin wirke, im Griff habe. Anscheinend nicht. Das ist gefährlich. Ich darf auf keinen Fall zu lassen, dass er von Richards Anwesenheit in dieser Stadt erfährt.

Auf dem Weg zum Schlafzimmer komme ich an der Kommode vorbei, auf der der Ring liegt, den mir Richard gegeben hat. Ich taste danach, spüre das kühle Metall an meinen Fingerspitzen und  betrachte wiederholt die gravierten Runen. Fünf Zeichen. Drei davon sehen völlig identisch. Es dauert einen Moment, doch dann verstehe ich, dass tatsächlich mein Name in keltischen Runen darauf steht. Richard trug all die Jahre einen Ring mit meinem Namen bei sich. Augenblicklich erfasst mich tief dringende Hitze. Ich denke an sein flehendes Gesicht zurück, welches mit jeder Minute meiner Anwesenheit weicher und glücklicher wurde.

Behind the WallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt