Was der Vergangenheit folgt

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Kapitel 32 Was der Vergangenheit folgt

„Stopp... bitte... Wovon redest du da?", erkundigt sich Richard schwach. Ich schaffe es nicht, aufzusehen und selbst wenn ich es könnte, würde ich sein Gesicht nicht klar erkennen können. „Eleen?" Er sagt meinen Namen und ich schließe die Augen, setze die Tränen endgültig in Gang, indem ich sie über die Dämme hinausschiebe.

„Als du weg warst, da...", beginne ich flüsternd, „er... ich wusste nicht, was ich machen sollte" Meine Stimme schwächelt und alles in meinem Kopf ist plötzlich ein absolutes Chaos, so, wie in diesem Moment damals. „Dein Vater... er ist wieder aufgewacht... und er hat ganz schrecklich geröchelt und gestöhnt... Ich... Ich... Er hat mich angestarrt. Es hat mir solche Angst gemacht... Ich wusste, dass er dafür sorgt, dass ich dich nie wiedersehe und... Und...meine Familie mit hineingezogen wird." Sein Blick, richtend und zornig, hat mich verfolgt, unzählige Nächte lang. Immer dann, wenn die Stille nach mir griff und ich ihr nicht entkommen könnte.

„Oh nein, du dummer Junge, was hast du getan?" Meine ohnehin schon instabile Ausdrucksfähigkeit wird durch ein weiteren Tränenschwall gestoppt, als ich Moores vorwurfsvollen Ton vernehme. „de Faro!", harscht er mich an. Mein Blick geht zurück zu Richard, der mich ungläubig anblickt.

„Er hörte nicht auf und da habe ich ... ich wollte das er schweigt und er.... er." Obwohl es keine Worte waren, hörte ich ihn laut in meinem Kopf. Seine Stimme. Die Vorwürfe. Jeder Streit. Jede Diskussion, die er mit Richard führte, echote durch meinen Schädel wie bedrohlicher Donner. Laut und eindringlich. Ich fühlte die Verzweiflung in jeder Zelle meines Seins und sie schrie, auch wenn ich selbst stumm blieb. Das Resultat ist uns allen wohlbewusst, also spreche ich es nicht aus.

Ich sah, wie das Leben aus seinen Augen verschwand. „Es tut mir leid..." Meine Stimme bricht. Ich kann mich nicht dazu bringen, aufzusehen. Nicht einmal, als ich das heftige Klagen höre, welches Moore ausstößt oder das pfeifende Raunen, welches Steven in den Raum entlässt. Genauso wenig schaffe ich es, dem Zittern meiner Hände zu entgehen, welches sich auf meinen gesamten Körper überträgt, wie ein lauer Windstoß, der erst eines und dann alle Blätter zum Wanken bringt. All das, was ich seit Jahren versuche zu verarbeiten und zu verstehen, liegt offen da. Wie ein blanker, freigelegter Nerv, dessen bloße Existenz puren Schmerz verursacht. Ich wollte nicht, dass Richard es erfährt, weil ich mir selbst nicht eingestehen konnte, dass ich dazu in der Lage gewesen war.

„Es tut mir so leid", wiederhole ich flüsternd, so leise, dass ich nicht sicher bin, ob Richard es hören kann. Schluchzend rinnt Richards Name ein paar Mal über meine Lippen wie ein bitteres Gebet um Vergebung. Meine größte Angst war stets, dass Richard erkennt, dass ich es nicht wert bin. Ich ertrug es, von ihm getrennt zu sein, solange ich wusste, dass sich sein Bild von mir nicht trübt. Aber das ist nun vorbei.

„Das wird ja immer besser", höre ich Steven spotten, spüre sein Lachen auf meiner Haut wie saurer Regen und merke, wie sich der Knoten in meiner Magengegend weiter zuschnürt. Warum haben wir nicht einfach in Ruhe Leben dürfen? Einfach vergessen dürfen?

„Eleen, hör zu. Eleen!" Moores Stimme dringt nur wage zu mir durch. „Sein Genick war gebrochen und seine Lunge punktiert. Er ist an seinem eigenen Blut erstickt, das hat die Autopsie bewiesen", erklärt Moore, nachdem er mehrmals geräuschvoll ein und ausatmet. Ich schüttele den Kopf. Seine Worte ändern nichts an der Tatsache, dass ich ihm bewusst die Chance genommen habe, es zu überleben. In den vergangenen Jahren habe ich oft darüber nachgedacht. Die gesamte Situation zerlegt und wieder zusammengesetzt. Wir hätten vieles anders machen können, vieles anders machen müssen. Doch damals wusste ich nicht, was ich heute weiß. Wir waren Kinder. Wir hatten Angst, denn alles wirkte aussichtslos. Aber es war meine größte Furcht, dass das Überleben seines Vaters unsere Situation verschlimmerte. Mehr als sein Tod. An etwas anderes hatte ich nicht denken können. Das Blut rauschte laut in meinen Ohren. Meine Hände zitterten, so, wie jetzt. Ich habe das Gefühl, komplett betäubt zu sein und von der Schwere all der Gefühle erdrückt zu werden. Richards warme Hand an meiner Wange ist das Einzige, was mich davon abhält, endgültig zu zerbersten. Als ich es endlich schaffe, aufzublicken, hockt er vor mir. In seinen Augen zeigt sich der Film unseres Lebens gefüllt mit tiefsitzender Emotion. Trauer, Wut und Liebe. Ich wünschte nicht zum ersten Mal, ich wäre nur ein Statist darin. Eine Fußnote im Abspann, die im Getümmel der Gesichter Bedeutungslosigkeit erfährt. Auch Richards Wangen sind feucht und bevor ich auch nur einen Ton hervorbringe, zieht er mich in seine Arme.

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