Die herbe Süße reinen Weines

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Kapitel 19 Die herbe Süße reinen Weines

Als ich runter ins Foyer komme, bleibe ich neben dem Tresen des Pförtners stehen und sehe mich nach meinem Bruder um. Ich finde ihn sofort. Ewan hat sich zu einer der Sitzgruppen im Foyer gestellt. Sein Blick wandert über die Prospekte und Angebote. Seine Miene verrät nicht die geringste Regung und dennoch wirkt er seltsam ruhelos. Auch die Tatsache, dass er sich nicht hingesetzt hat, spricht dafür. Ich atme angestrengt aus.

Außerdem verfehlt die große Gestalt meines Bruders ihre Wirkung nicht. Jeder, der an ihm vorbeigeht, blickt verstohlen zu ihm auf. Männer, wie Frauen. Auch bei mir weckt es die altbekannten Gefühle. Von den drei Brüdern bin ich der Jüngste und bin trotz meiner 1,80 m der Kleinste. Das haben sie mich oft spüren lassen.

„De Faro!" Ein Flüstern dringt zu mir. Ich schaue zur Seite und direkt in das rundliche Gesicht des Pförtners. Seine Augen wandern nervös zu meinem Bruder und dann wieder zu mir.

„Brauchst du Hilfe?", fragt er vorsichtig, greift an seinen Sicherheitsgürtel, an dem ein Teaser und Pfefferspray befestigt sind. Er müsste springen um das gefährliche Spray in Ewans Gesichtsbereich zu bekommen. Ich kann nicht verhindern, dass sich ein seltsames Lächeln auf meine Lippen schleicht.

„Nein, schon gut. Er ist mein Bruder." Obwohl es beruhigend klingen soll, höre ich mich zurückhaltend an. Micha wirkt nicht überzeugt. Auch die Tatsache, dass ich noch nicht überschwänglich auf mein Familienmitglied losgestürmt bin, gibt ihm wohl Anlass zum Zweifeln. Meine Familie war noch nie besonders bekannt für ihre lauschigen Gefühlsbekundungen. Begrüßung und Verabschiedungen bestehen bei uns aus einem einfachen Händedruck, leichten, eher unfähigen Umarmungen oder seit meiner Entlassung auch nur noch aus einem leichten Nicken.

Ewan blickt sich ungeduldig um und wenn ich nicht binnen weniger Sekunden unter dem Empfangstresen abtauche, wird er mich gleich sehe. Schon geschehen. Ewan erkennt mich sofort und hebt fragend seine Hände in die Luft. Ich komme nicht umher, die wenigen Meter zu ihm zu überbrücken und merke, wie mein Kopf auf dem Weg dorthin tausende Gedanken durcheinander schmeißt. Habe ich etwas vergessen? Sicher ist es nur eine Stippvisiten, weil ich die letzten Tage nicht erreichbar gewesen bin. Da er mir nichts aufs Band gesprochen hat, habe ich nichts Böses vermutet. Ich bleibe vor ihm stehen und sehe dabei zu, wie sich Ewans Arme vor seiner Brust verschränken. Unser Begrüßungsrepertoire wurde gerade erweitert. Die eigentlich abwehrende Geste ist bei meinem Bruder ein Ausdruck seiner Unzufriedenheit.

„Eleen..." Ich bin es leid meinen Namen so aus seinem Mund zu hören. Ich seufze genervt und will mich nicht länger mit Floskeln aufhalten.

„Was machst du hier?", frage ich direkt und ohne Umschweife. Außerdem möchte ich ihm verdeutlich, wie sehr es mir gegen den Strich geht, dass er bei meiner Arbeitsstelle aufkreuzt. Er selbst hatte mir vor nicht allzu langer Zeit bei einer stundenlangen Ansprache versucht deutlich zu machen, wie wichtig dieser Job für mein normales Leben ist. Eine Chance für ein normales Leben. In jedem seiner Sätze verwendet er das Wort Normal. Aus Interesse heraus habe ich danach den Duden aufgeschlagen und die Bedeutung herausgesucht. So, wie es allgemein üblich oder gewöhnlich ist oder als üblich und gewöhnlich gesehen wird, heißt es darin. Nach meinem Gefängnisaufenthalt war für mich nichts mehr gewöhnlich. Nichts war, wie üblich. Normalität war ein Fremdwort. Niemand hat es verstanden.

Ewan seufzt ebenfalls auf und lässt dann seine Hände wieder sinken. Nun wirkt er eher müde als angriffslustig.

„Wie geht es dir?", fragt er mich ohne auf meine Frage einzugehen und um die Spannung zu reduzieren. Allerdings funktioniert es nicht. Ich finde unmöglich, dass er ohne Ankündigung hier auftaucht.

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