Das Wissen als Omen der Vergangenheit

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Kapitel 9 Das Wissen als Omen der Vergangenheit

Am Montag bin ich früher als gewohnt auf Arbeit. Schon wieder habe ich die halbe Nacht nicht schlafen können, aber diesmal war es der nagende Zweifel, der sich durch mein Gehirn grub und fraß. Alle seltsamen Momente der letzten Tage liefen bildhaft vor meinem geistigen Auge ab. Das wegfahrende Auto vor meiner Wohnung oder vor dem Restaurantbesuch mit Kaley. Im Grunde nichts Ungewöhnliches, aber warum fuhr es genau in dem Moment davon, als ich es entdecke? Der seltsame Anruf. Bisher gab es keinen weiteren. Vielleicht war es nur ein Streich? Allerdings war da auch noch der Typ mit der Zigarette, der immer noch dieses kitzelnde Gefühl des Bekanntseins in mir auslöst. Aber es bleibt ein Kitzeln. Vielleicht irre ich mich auch. Aber egal, denn im Prinzip sagt auch, das nichts aus. Ich kann ihn überall her kennen oder auch nirgendwoher.
Aber vor allem natürlich geistern die Bilder der schlanken, blonden Frau durch meinen Kopf. Das Kind auf ihrem Arm. Sind sie aus Versehen in meinem Briefkasten gelandet? Auf dem Umschlag gab es keinen Absender und keine angegebene Adresse. Sie müssen persönlich hin gesteckt worden sein. Die Nacht über zermarterte ich mir das Hirn und schlief irgendwann vor Erschöpfung ein.

In meinem Spind krame ich nach den Arbeitsklamotten und ziehe mir mein Shirt über den Kopf. Die Kette und der Ring prallen gegen meine Brust und automatisch denke ich an Richard. Ich lasse mich müde auf der Sitzbank für meinen Schrank nieder. Die Bilder. Wieder und wieder habe ich die junge Frau darauf angestarrt. Ich kenne sie definitiv nicht. Und doch werde ich das Gefühl nicht los, dass es etwas mit damals zu tun hat. Besonders der Anblick des Kindes hatte etwas in mir ausgelöst, was ich schwer definieren kann. Ein beschämendes, mahnendes Kribbeln. Wie falsch ist das mit Rick wirklich?

Ich rede mir krampfhaft ein, dass die Bilder nur im falschen Briefkasten lagen. Es muss so sein. Es muss.

Ich lasse meinen Kopf gegen den kühlen Schrank kippen und schließe die Augen. Das Arbeitsshirt bleibt in meinem Schoss liegen. Richards lächelndes Gesicht bildet sich in meinem Kopf. Die schönen, warmem Augen, die mich stets so liebevoll und kostbar angesehen haben. Damals, wie heute. Wärme durchfährt meinen erstarrten Körper und lässt mich einen Moment mit einem zärtlichen Kribbeln ausatmen. Ich entspanne mich.. Ich weiß nicht, wann wir uns wiedersehen werden, doch allein diese letzten zwei Tage haben mir Kraft geschenkt.

Das Klacken des Türschlosses lässt mich auf schrecken. Kai steht am Ende der Schrankreihe und sieht mich schüchtern an. Ich muss eingeschlafen sein.

„Guten Morgen", sage ich leise und ziehe mir schnell das Shirt über den Kopf.

„Morgen", murmelt er mir entgegen und wendet seinen Blick von mir ab. Seit ich ihn wegen Steven angesprochen habe, ist er mir mehr oder weniger aus dem Weg gegangen. Wir haben uns immer nur kurz gesehen und dann war er schnell abgehauen. Ich sehe ihm dabei zu, wie er auch jetzt schnell seine Sachen verstaut und dann in den Aufenthaltsraum verschwindet. Es wirkt, als wäre ihm irgendwas unangenehm, aber ich weiß einfach nicht was. Ich ziehe mich komplett um und nehme mir das Arbeitstelefon zur Hand. Ein Anruf in Abwesenheit. Ich erkenne die Nummer als die der Heizungsfirma wieder und rufe sie zurück. Eine nette Dame erklärt mir, dass der Anruf nur bestätigen sollte, dass sich heute einer der Monteure bei uns einfinden wird. Ich bitte darum, mir dessen Nummer zu geben, doch sie versichert mir, dass er sich bei mir melden wird. Wann er bei uns auftaucht, könne sie nicht sagen. Vielleicht zum frühen Nachmittag. Einen weiteren Versuch mir seine Nummer anzuvertrauen, duldet sie ebenso wenig, wie den ersten und wünscht mir einen guten Tag. Bereits jetzt habe ich im Gefühl, dass der Tag nicht sonderlich gut laufen wird. Im Aufenthaltsraum begrüße ich die anderen Kollegen, sehe erneut Kais beschämten Blick und entdecke dann die Nachricht vom Chef, die mir mitteilt, dass ich in der dritten Etage eine Feinjustierung der Klimaanlage durchführen soll. Das Diagnosegerät bekomme ich bei ihm. Gut, dass ich mir um Arbeit keine Sorgen mehr machen muss, so was dauert ewig. Samt Gerät und mulmiges Gefühl latsche ich die Treppe rauf in die dritte Etage und beginne meine Arbeit. Immerhin ohne irgendwelche Störenfriede.

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