Die Last der Schweigsamen

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Kapitel 12 Die Last der Schweigsamen

Nach unendlichen Minuten des Nichtatemkönnens setze ich meinen Weg fort. Drücke mir unentwegt die Hand gegen den oberen Bereich meines Bauches und laufe so lange durch die Stadt bis ich vor Kälte meine Finger nicht mehr spüren kann. Erst dann bleibe ich vor einer U-Bahnstation stehen und orientiere mich. Ich befinde mich am anderen Ende der Stadt. Die lange Fahrt zurück in meine Wohnung beruhigt mich. Unbekannte Gesichter. Völlige Anonymität. Zwei junge Mädchen sitzen neben mir und teilen sich einen Kopfhörer. Ich kann die heftigen Beats der Musik, die sie hören, förmlich auf meiner Haut spüren. Berauschendes Dröhnen. Die Melodie ist mir nicht bekannt. Ich bin mir auch nicht sicher, ob man es als Melodie bezeichnen kann.
Ein älterer Herr, der nach Zigarrenrauch und Seife riecht, sitzt auf der anderen Seite. Die Kombination der beiden Gerüche ist so eigenartig, dass er ein ganze Weile meine Aufmerksamkeit hat, während mich die Vibrationen der Musik neben mir langsam einlullen. Ich selbst habe nie geraucht, aber Rick hatte ein paar Mal Zigarren von seinem Vater geklaut. Den Geruch empfand ich schon damals als anziehend, obwohl sich zugleich auch ein schlechtes Gefühl in mir wähnt. Auch Renard Paddock roch stets nach abgestandenen Zigarren- und Zigarettenrauch. Doch meine Erinnerung hieran ist bissig, ekelhaft und kalt belegt. Vielleicht ist es die Mischung aus beidem, die mir die Schauer durch den Körper jagen. Unwillkürlich schließe ich die Augen. Ich habe das Gefühl den Geschmack des Tabaks auf meinen Lippen zu spüren. Bitter. Herb. Seine Hände an meinem Hals. Ich kriege keine Luft und schrecke auf. Die Mädchen neben mir sehen mich mit leicht geweiteten Augen an. Ich streiche mir die Haare zurück, stehe auf und stelle mich für den Rest des Weges an die Tür. Niemand steigt in der Zeit ein oder aus und ich starre in die Dunkelheit hinaus.

Genau in dem Moment als ich die Tür zu meiner Wohnung schließe, klingelt das Telefon. Das Geräusch lässt mich augenblicklich zusammenfahren. Mein rasender Herzschlag hallt und bebt. Seit wann bin ich wieder so schreckhaft? Noch vollkommen bekleidet, gehe ich ins Wohnzimmer und sehe auf das leuchtende Plastikteil herab. Die ersten Wochen nach dem Gefängnis bin ich auch bei jedem noch so kleinem Geräusch zusammen gezuckt. Ich lauschte und beobachtete. Alles und jeden. Im Gefängnis musste man derartig vorsichtig sein. Ich habe eine Weile gebraucht um die Verhaltensmuster abzulegen. Doch bis heute habe ich gern etwas im Rücken, damit niemand von hinten an mich herantreten kann. Allerdings lässt es sich nicht immer verhindern, wie das Zusammentreffen mit Detective Moore vor ein paar Tagen bewies. Er hat mich vollkommen überrascht. Als nächstes fällt mir die Begegnung mit einem meiner Nachbarn ein. Er kam rückwärts aus seiner Wohnung gelaufen, ohne nachzudenken und ohne zu gucken und lief direkt in mich hinein. Ich würde mich stets vorher absichern und lauschen, ob ich im Treppenhaus Schritte oder Stimmen höre. Er war völlig unbedarft. Fast beneidenswert. Ein junger Mann, der stets ein Lächeln in seinem Gesicht trug, aber in der letzten Zeit sah ich ihn immer wieder nachdenklich und ruhig. Das Telefon klingt noch immer. Wenn es Ewan ist, muss ich rangehen. Ich greife zögernd danach, sehe keine Nummer auf dem Display.

„Hallo?", frage ich. Nur Stille. „Hallo, wer ist dran?", wiederhole ich verbissen. Ich will keine Furcht zeigen. Nun höre ich jemanden atmen. Das Rauschen ist deutlich wahrzunehmen.

„Ich höre sie atmen. Was wollen sie?" Meiner verzweifelten Frage folgt ein feines Kichern. Dann wieder nur Atem. Ich nehme das Telefon bereits von meinem Ohr, doch dann ertönt eine Stimme. Männlich.

„Hast du sie gesehen? Sie ist ein schönes Kind, nicht wahr?" Mich erfasst Kälte. Ich muss ihm nicht bestätigen, dass ich die Adresse aufgesucht hatte. Er weiß es. Er hat mich beobachtet.

„Wer bist du?", erfrage ich mit zitternder Stimme.

„Wie fühlt man sich, wenn man schon wieder eine Familie zerstört?" Ich lasse das Telefon sinken und fallen. Ich bin vollkommen erstarrt. In meinen Ohren beginnt es zu rauschen und ich habe das Gefühl, dass sich mit einem Mal das Pochen meines Herzens durch den ganzen Raum arbeitet. Laut. Dröhnend. Er schallt von den Wänden wider und trifft zurück auf meinen Körper. Die Wände beginnen zu vibrieren und meine Beine geben langsam nach. Als ich auf meinen Knien lande, sehe ich auf das am Boden liegende Telefon. Es ist noch an und ich höre das dumpfe Lachen, das aus dem Hörer dringt.

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