London, here we come - OS zu Folge 288

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Bens Sicht:

„Elias, ich weiß, dass es eine unglaubliche undeinmalige Chance ist, meine Hautforschung in einer echten Testreihe angewendetzu sehen.", versuchte ich meinem besten Freund gegenüber klarzustellen, derseit über einer halben Stunde versuchte, mir vor Augen zu führen, dass Londoneinfach die perfekte Wahl für die kommenden Wochen sein würde. Mein Standpunkt wardiesseits ein anderer und das versuchte ich Bährchren gegenüber zu erörtern.Wobei ich bisher nur mäßigen Erfolg vorzuweisen hatte. „Aber ich kann es nicht.Ich habe die letzten Tage wirklich andauernd pro und contra Argumentationen inmeinem Kopf durchlaufen lassen und bin schließlich immer wieder zu dem gleichenErgebnis gekommen. Ich kann das nicht ohne meine Familie machen. Ich wäre dienächsten drei Monate in London. Leyla und Raya sind aktuell noch bei Badri inWien und werden wohl auch erst in einer Woche wieder hier sein, wenn ichebendem dann schon in England sein müsste... Ich konnte es damals vor zweieinhalbJahren nur mit schwerem Herzen über mich bringen, Leyla hier zurückzulassen fürdie Forschung. Drei Monate ohne sie und vor allem ohne meinen kleinenWirbelwind... Das schaffe ich einfach nicht! Sicherlich war ich bezogen auf meineDoktorarbeit damals kurz davor diesen Schritt zu wagen, aber zu der Zeit warich emotional an einem ganz andern Punkt in meinem Leben. Da war ich eingebrochener Mann, der nicht mehr wusste, wo sein Platz im Leben ist. Schlussendlichkann ich Leyla auch nicht darum bitten, sich dafür extra drei MonateSonderurlaub zu nehmen, um mit mir zu gehen, sodass mein Heimweh nicht zu großwerden würde. Das wäre ihr gegenüber nun wirklich nicht fair. Aber am Ende istes eben dann auch nur Arbeit. Das was zu Hause jeden einzelnen Tag auf mich wartet,dass ist tausend Mal wichtiger als jeder beruflicher Ruhm.", erklärte ichBährchen monologisch meine erarbeiteten Vor- und Nachteile. 

Ich hattenoch immer das Gefühl, dass ich mich ihm gegenüber erklären musste. Wobei er jadamals auch nicht den Schritt gewagt hatte und in Bosten geblieben ist. Eigentlichgenossen wir unsere Mittagspause draußen im grünen, doch dann waren wir beimSmalltalk über den bisherigen Arbeitstag, ein weiteres Mal am Themenfeld meinerForschung hängen geblieben. Auch wenn Elias wohl immer der Erfurter Jungebleiben wird, der keine Arbeitsstelle in weiter Entfernung zu seiner Heimatannehmen würde, so war er ein passionierter Forschender, der dem medizinischenFortschritt eine ganz bedeutende Stellung einräumte. Diesen Umstand bekam ichnunmehr im Laufe unseres Gespräches immer stärker zu spüren. 

Demnachversuchte er es erneut aus einem anderen Argumentationsfeld heraus: „Ben. Duhast dich vor drei Jahren für die Hautforschung verschrieben, sodass du schwerstBrandverletzten ein neues, qualitativ hochwertiges Leben bereiten kannst und umdeinem Vater zu beweisen, dass die rekonstruktive Chirurgie ebendem nicht nurNasen korrigiert und Fett absaugt. Wie dem auch sei. Du hast in demForschungsfeld deine Passion gefunden! Warum willst du das Alles dann einfachan ein weiteres Forschungsteam übergeben? Ich sehe doch das Glänzen in deinenAugen, wenn wir hier einzelne Testpersonen erfolgreich behandeln und diese daraufhinvon ihren physischen und psychischen Narben befreit sind. Warum dann jetztaufgeben? Sicherlich, dass Argument mit Leyla und Raya, das verstehe ichvollkommen. Aber was spricht dagegen sie darum zu bitten mitzukommen? Raya istnoch in dem Alter, in dem man sie ohne größere Probleme für eine längere Zeitaus der Kita nehmen kann. Leyla könnte ohne Probleme freigestellt werden. Siehat sich in den letzten Jahren ein nahezu gleichwertig hohes Überstundenkontoaufgebaut wie Moreau und das ist wirklich nicht so einfach umzusetzen. DasTrauma-Zentrum läuft. Die Assistenzärzte machen sich und in den nächsten dreiMonate steht auch nichts allzu Großes an, was ich in der Zeit in den Sandsetzen könnte. Leyla könnte gleichwohl die so vermisste Zeit mit Zoeverbringen. Ich weiß doch, wie sehr sie sich wünscht, dass zwischen Zoe und ihrebendem nicht tausende Kilometer wären. Also warum nicht einfach fragen? Mehrals nein, kann sie am Ende des Tages dann ja auch nicht sagen."

Sicherlichhatte Elias recht, von der rationalen Seite der Betrachtung gab es kaumArgumente, die einer gemeinsamen Reise nach London im Wege standen. Doch amEnde des Tages war ich auch ein Partner und Ehemann, der seine Wünsche nichtüber die seiner Frau stellte. Wir hatten beide ein Standing in unserem Beruf aufgebaut,welches eben nicht immer miteinander vereinbar war, aber trotzdem für uns einengroßen Wert darstellte. Warum sollte ich dann nunmehr den dominierenden Partnerraushängen lassen, um Leyla von ihren Wünschen abzuhalten. Dem Wunsch eineseinfachen Familienlebens. Seitdem ich zum Oberarzt ernannt wurde,hatte sich meine Frau noch etwas mehr aus dem klinischen Alltag zurückgezogen,um Zeit mit unserer Tochter und dem umgebenden Haushalt verbringen zu können.Ich hatte die ersten Wochen jegliche Schichten, die irgendwie besetzt werdensollten, an mich gerissen, hoffend, dass ich allen anderen beweisen konnte,dass ich die Stelle des Oberarztes eben nicht allein aus Mitleidsgründenbekommen hatte. Recht schnell war ich jedoch zu der Erkenntnis gekommen, dassich zwar nun mein ersehntes berufliches Ziel erreicht hatte, doch dabei trotzaller Vorsicht meinerseits die Familie zurückstecken musste. Ein Tausch den ichauf Dauer auch nicht eingehen wollte. Ich hatte in meiner eigenen Kindheit schmerzlichlernen dürfen, wie sich dies anfühlte und das wollte ich für meine eigeneTochter nun wirklich nicht. Daher hatte ich die Stunden reduziert und michwieder aktiver um meine Verpflichtungen als Ehemann und Vater gekümmert. Würdeich durch einen Forschungsaufenthalt in England all meine Anpassungen nichtwieder einreißen und Leyla schlussendlich mit allem alleine lassen?

Eliashatte in meinem Kopf das Gedankenkarussell der letzten Tage wieder angestoßen.Hatte ich es bis vorgestern zum Schweigen gebracht, da ich Professor Stevensonam Telefon abgesagt hatte, so hatte es nach dem Gespräch mit Frau Stadler amgestrigen Tag wieder an Fahrt aufgenommen. Ihr Interesse an der rekonstruktivenChirurgie, an der Arbeit von Doktor Moreau und auch von mir rührte von einersehr engen persönlichen Betroffenheit. Eine Betroffenheit, die verbindet. Diemich gleichwohl angestachelt hat, weitezumachen. Sie wäre eine der vielenPatienten, die durch meine Forschung irgendwann wieder stolz im Bikini amStrand liegen konnten, ohne das Gefühl zu haben von allen herumstehendenangestarrt zu werden. Sie könnte daraufhin in ihr altes Leben zurück. War dasnicht der Antrieb, der mich seitdem ich mit dem Forschungsfeld begonnen hatte,immer weitermachen ließ? Und all diese Argumente schwirrten seit gesternbereits durch meinen Kopf und wurden durch Elias Inquisition nur noch lauterund fordernder.

„Hastdu Leyla überhaupt davon berichtet, dass du Professor Stevenson endgültigabgesagt hast?", brach Elias das Schweigen, welches sich zwischen uns gelegthatte, während ich in meiner eigenen Gedankenwelt versunken war. 

Kopfschüttelndgab ich resigniert wieder: „Nein. Und bevor du zu einer neuen Argumentation ansetzt.Ich weiß, sie ist meine Frau. Sie hat ein recht darauf zu erfahren, dass ichAbgesagt habe und sie darf auch erfahren, warum ich das gemacht habe. Ja, ja,ja. Berger, hat gestern bereits die ganze Argumentationsschiene diesseits ausgepackt.Aber ich weiß, dass meine Frau mich am Ende wahrscheinlich davon überzeugen würde,dass ich nach London gehe. Und dann?... Wenn es gut läuft, dann könnte ich inden nächsten Monaten die erste Testreihe der Forschung begleiten. Dann kommeich nach Hause zurück und muss hier wieder beweisen, dass ich mein Pensum derPatienten weiter tragen und auch der Stelle als Oberarzt gerecht werden kann.Im Idealfall muss ich dann spätestens sechs Monate später wieder auf die Insel,um die zweite Testreihe zu begleiten, die dann gewiss länger als ein viertelJahr andauern wird. Und wieder bin ich von meiner Familie getrennt. Imschlechtesten Fall läuft es wiederum wie bei meinem letzten Auslandsaufenthaltund mein Ehrgeiz trägt mich so weit, dass ich meine Belastungsgrenzen überhöreund am Ende wieder mit meinem Bein zu kämpfen habe und daraufhin noch längerausfalle, als es sowieso der Fall ist... Elias, wie ich es auch drehe und wende.Wenn die Forschung gewinnt, dann verlieren automatisch meine Kollegen, sowieFreund und vor allem ist es meine Familie, die dann hinten angestellt werdenmuss. Vor Jahren als ich hier angefangen habe, da wäre ich kopfüber in diesesRisiko hineingesprungen, ohne auch nur einen Gedanken an die Folgen zuriskieren. Inzwischen bin ich jedoch an den Herausforderungen und Rückschlägengewachsen und habe darüber gelernt, dass es ok ist, sich einzugestehen, dassman ebendem nicht alles erreichen kann... Derweil komme ich damit klar. Außerdemweiß ich, dass meine Forschung nicht im Sand verläuft. Sie wird dort im Zentrumfür Brandwundenforschung bestmöglich fortgesetzt. Ich partizipiere auch weiteraktiv an der Auswertung und Weiterentwicklung, bloß eben nicht als Kapitän desSchiffes, sondern viel mehr als der Lotse."

„Duhast Raya zu viel von den ‚Großen Abenteuern der Schiffe' vorgelesen. Sonstigwürdest du nicht mit derartigen Allegorien um dich werfen.", witzelte Elias, umdie Stimmung zwischen uns ein wenig zu entlasten. 

Soebenwollte ich Bährchen gegenüber zu einer Antwort ansetzen, als ich durch das Klingelnmeines Handys unterbrochen wurde. Durch einen kurzen Blick auf das Displayerkannte ich sofort, dass es sich bei dem Anrufer, um meine Frau handelte.Manches Mal fragte ich mich, ob sie in der Lage war meine Gedanken zu lesen unddaher immer wieder in den richtigen Momenten die perfekte Antwort zur Handhatte, beziehungsweise das Gespräch zu mir suchte. Irgendwie war es auchgruselig. Das Gespräch entgegennehmend, wurde ich von der beruhigenden Stimmemeiner Frau empfangen. „Hey, Ben. Es ist schön deine Stimme zu hören.", kam esvon der vertrauten Stimme meiner Frau über das Telefon, doch relativ schnellwurde mir klar, dass es sich bei dem Anruf scheinbar nicht um ein herkömmlichesfamiliäres Gespräch handelte, „Ich habe einen Anruf von Herrn Berger bekommen,der mir mitgeteilt hat, dass du London abgesagt hast, obwohl du doch DoktorStevenson schon vor Wochen zugesagt hattest. Magst du mir das mal erklären, wasdich zu diesem Positionswechsel getrieben hat?"

PS.: Was Leyla. Ben als Argumente für London entgegenbringt, überlasse ich den Gedankenwelten jedes Einzelnen der hier mitliest ;) 

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