Vergangenheit - Vergebung 4

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Matteos Blickwinkel:

Ahlbeck, der einige Sekunden brauchte, um zu registrieren, was sich soeben alles zugetragen hatte, war nunmehr wieder in das hier und jetzt zurückgekehrt und begann damit Leyla nachzueilen. 

So sehr mein eigenes Herz danach schrie, dass ich ihr nach der Gesamtheit der verletzenden Aussagen von Louise gleichwertig zur Seite stehen musste, indes wusste ich auf der einen Seite, dass es wohlweislich besser wäre, dass ihr Mann vorerst die zerbrochenen Stücke ihrer Seele zusammenkehrte und auf der anderen Seite musste ich bevor ich das hier hinter mir lassen konnte, zumindest ein letztes Mal eine Trennlinie ziehen. Eine, die ich derartig nicht intendiert hatte. Die sich, aber durch all das was sich hier in der letzten halben Stunde zugetragen hatte, entwickelt hat. Mit den Anschuldigungen gegen meine Person konnte ich leben. Aber Leyla, Mirjams älteste Freundin dort mit reinzuziehen, war etwas was ich nicht ertragen wollte. Der Wille hier eine stabile Zukunft zu errichten war gebrochen. Denn auch wenn sowohl Walter als auch Louise ein wichtiger Teil meiner Vergangenheit waren, so war es seit dem Tag, als Mirjam sich das Leben genommen hat, Leyla die an meiner Seite stand und mich mit all meinen Gemütslagen ertrug. Über all die Jahre hinweg. Die beiden Personen, die hier vor mir saßen, sind mir hingegen fremd geworden. Sie haben einen riesigen Bogen um mich gemacht, um selbst nicht mehr mit dem Schmerz belastet werden zu müssen. Jahre der Funkstille haben den Graben, der sich kurz nach der Beerdigung unseres Kindes, der kleinen Carlotta, entwickelt hatte, weiter vertieft. An den Geburts- und Todestagen, meiner Frau, der vergangen Jahre habe ich sonstig nie nur eine Nachricht von ihnen bekommen, die gezeigt hätte, dass sie Interesse daran hätte zu erfahren, wie ich mit der gesamten Situation umgehe oder mich die Last der Schuld wohlmöglich erdrückte. Ob ich möglicherweise neues Glück in meinem Leben gefunden hatte... Doch da war nichts. Und es würde auch wohl nicht weiteres von ihnen folgen. Sicherlich konnte ich jedes Mal bei meinen Besuchen auf dem Friedhof erkennen, dass sie bereits vor mir dagewesen waren, da dort frische weiße Lilien und Callas in einer Vase thronten. Doch effektiv gesehen, hatte ich sie all die Zeit nie. Leyla hingegen, verstand meinen tief sitzenden Schmerz auf einer Ebene, wie es niemand anderes konnte. Die letzten Jahre seitdem wir beide zurück nach Erfurt gekehrt waren, sind wir jedes Jahr gemeinsam gegangen und haben Mirjam Blumen gebracht. Helle, farbenfrohe Pflanzen, die ebendem das Leben zelebrierten und nicht den Tod und die Trauer weiter vertiefen sollten. 

Während ich im Augenwinkel noch so lange wartete, bis Ahlbeck aus der Tür war, so war, sobald er diese ins Schloss gezogen hatte, das letzte Fluttor der Wut in mir eröffnet worden, welches dafür sorgte, dass ich nunmehr sehr ungehalten meinen ehemaligen Schwiegereltern gegenüber das erklärte, was sich über all die Zeit hinweg aufgestaut hatte. 

Die Tirade meinerseits dauerte etwa zehn Minuten, bis ich daraufhin gleichwertig meine Jacke nahm und mich ein letztes Mal umblickend von einem großen Teil meiner Vergangenheit trennte. Etwas was schon sehr lange kein Teil meines Seins war und nunmehr allein Wut und Schmerz hervorgerufen hatten und ebendem nicht das Repertoire an Emotionen, welches ich mir für diesen Tag gewünscht hätte. Walter rief mir noch einige unschöne Dinge hinterher, die hingegen an mir abprallten, da es sich dabei auch nur um aufgewärmte Sachverhalte handelte, die er mir bereits so häufig zu Lasten gelegt hatte. Sollte er sich doch in seinem Gram fortwährend suhlen. Wenn es ihm damit besser gehen würde, macht es mir schlussendlich nichts aus. 

Hinaustretend in den lauen Frühlingstag wurde ich davon überrascht, dass derweil die Sonne schien. Während heute Vormittag der Himmel weinte und es aus Kübeln geschüttet hatte, so war es nunmehr sonnenklar und eine Vielzahl der Passanten flanierte im Häuserviertel meiner ehemaligen Schwiegereltern, den Bezugspersonen, von denen ich mich endlich loseisen konnte, auf und ab. Alles schien normal. Und das würde es auch weiterhin sein, dass schwor ich mir hier und jetzt. Ahlbeck kam wenige Augenblicke später von der Seite her auf mich zugetreten. Seine Wangen waren gerötet, als hätte er hier sein Sprinttraining abgehalten, während ich dort drinnen im Haus die heiße Luft losgeworden war. Aber er erklärte mir relativ schnell, dass ich mit meiner Annahme gar nicht so weit weg von der Realität fischte... „Ich finde Leyla nicht! Da wir gemeinsam mit dem Auto gekommen sind und ich den Schlüssel habe, ist es nachvollziehbar, dass der Wagen noch an der Straße steht. Selbst wenn Leyla ihren Kopf freibekommen möchte, dann würde sie gewiss nicht bis hin in die Innenstadt zurücklaufen. Ich bin jetzt schon die beiden angrenzenden Straßen hoch und runter gelaufen, um zu schauen ob ich sie irgendwo einholen kann, aber ich finde sie einfach nicht... Ihr Telefon schaltet sofort auf Mailbox, sobald ich versuche sie auf diesem zu erreichen. Ich weiß grade nicht weiter. Fällt ihn irgendetwas ein, was uns weiterhelfen könnte?", kam es im gehetzten und vor allem bedrückten Ton über Ahlbecks Lippen. Sorge um einen geliebten Menschen, eine Emotion, die ich schon sehr lange nicht mehr verspüren durfte. Auch wenn ich nachvollziehen konnte, dass Leyla nunmehr Abstand bräuchte um all das Gesagte, die Anschuldigungen und bitteren Worte zu begreifen, so wäre mich gleichwertig daran gelegen, dass wir zumindest herausfinden würden, wo sie verblieben sein könnte. Um meine Bedenken zu schmälern. Ahlbeck zu beruhigen. Und vor allem Leyla begreiflich zu machen, dass trotz Louises Theorem, sie definitiv nicht der Auslöser für die gesamte Abwärtsspirale meiner Frau war. Denn die Ursache, war noch viel weiter in der Vergangenheit gelagert. Ein dunkler Fleck, den ich bis heute noch immer nicht in den Fokus zerren konnte, um darüber zu sprechen. Doch vielleicht war es an der Zeit heute auch den letzten Stachel aus der Seele zu zerren? 

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