23

30 1 0
                                    

KAI

Die Sonne ging langsam unter. Hyunjin und ich saßen auf dem Balkon und redeten. Meine Hand hatte ich unter einer schwarzen Armstulpe versteckt, nachdem ich sie verbunden hatte. „Wie läuft es bei euch so?" Ich wusste, dass Stray Kids sich in erstaunlich kurzer Zeit in den Chartlisten nach Oben gearbeitet hatte. Ihr letztes Album stand momentan auf Platz 6, direkt unter unserem „Love Yourself 'Tear'". „Die Songs gehen durch die Decke, die Konzerte sind ausverkauft und die Musikvideos gehen viral. Alles in Allem läuft es momentan echt gut." Hyunjin nahm einen Schluck aus seinem Glas, was ich ihm gleichtat. „Freut mich für euch." Er betrachtete mich einen Moment, bevor er weitersprach. „Und du? Dein Song Tear ist echt der Knaller. Felix liebt ihn und ich bin so stolz auf dich. Es ist ein Starker Move zu sagen, dass der Song nicht dir gehört, sondern Hoseok, Yoongi und – du weißt schon." Er sah mich entschuldigend an. „Ja. Tatsächlich fand Cube Entertainment es ja erst nicht so lustig. Ich glaube die hätten mich echt gern bei sich gehabt." Ich nahm noch einen Schluck und betrachtete einen Moment den Sonnenuntergang. „Ich finde, du solltest mal einen eigenen Song raus bringen. Also nicht wie Tear nur als Songwriter, sondern so richtig. Selbst schreiben und dann performen. Du hast Talent." Überrascht sah ich meinen Kumpel an, der zurück grinste. „Ich helf dir gern. Schreib was und wir schauen zusammen, was sich draus machen lässt. Wenn du willst frag ich Felix, ob er dir ein paar Background Vocals macht." Ich nickte bedächtig. „Ja das klingt toll." Dann verfielen wir wieder in Schweigen. Dieser Tag war die Hölle gewesen. Nicht nur, dass Yuna so gequält wurde und ich nicht da gewesen war um sie zu beschützen, nein. Ich hatte auch noch meine Familie verloren und meinen Freund verletzt, wegen dem ich wenige Stunden zuvor von einem der größten koreanischen Musiklables abgelehnt wurde und war wieder in den Abgrund des Selbsthasses gerutscht. Kurz entschlossen stand ich auf. „Ich geh nochmal ne Runde raus. Kopf frei bekommen." Hyunjin nickte und sagte leise „Okay. Mach aber bitte keinen Scheiß, ja?" Ich nickte nur, schnappte mir meine Jacke und verließ das Haus.

Die kühle Nachtluft tat meinem Kopf gut und ich bekam wieder einigermaßen Luft. Das Telefonat mit Namjoon hatte mich zerstört. Hyunjin war sofort da gewesen als er mich weinen gesehen hatte und hatte mich versucht zu beruhigen. Doch es hatte nichts geholfen. Als die Olympic Bridge in Sicht kam, blieb ich stehen. Ohne dass ich es verhindern konnte spielte sich vor meinem inneren Auge die Szene meines Selbstmordversuches ab. Ich hatte sie schon so oft gesehen. Wieder und wieder war sie mir in meinen Träumen begegnet, doch jedes mal war Namjoon dagewesen und hatte mich geweckt. Jetzt war ich völlig allein. Die ganzen Emotionen, der ganze Schmerz der letzten Stunden brach über mich herein und ich ließ mich auf den Boden fallen. Es war genau so wie an dem Abend des Autounfalls, vor sechs Jahren. Mir schnürte es die Kehle zu und das machte mir nur noch mehr Angst. Verzweifelt zog ich mich an dem Geländer neben dem Weg hoch und vergrub das Gesicht in den Armen. Ich wollte so nicht mehr weiter leben, doch die Brücke schreckte mich so sehr ab, dass ich sitzen blieb. Nach einer Weile schaffte ich es, mich selbst soweit zu beruhigen, dass ich aufstehen konnte. Ich war noch immer völlig allein.

NAMJOON

Der Baum, hinter dem ich stand, raschelte leise im Wind. Im Licht des Mondes konnte ich Kais Schatten ausmachen. Ihm ging es genau so schlecht, wie mir. Mein Herz wollte zu ihm, ihn in den Arm nehmen und ihm sagen, wie sehr ich ihn liebte, doch mein Verstand hielt mich zurück. Ich konnte es nicht. Es würde uns beide nur noch mehr verletzen. Als Kai anfing, mir eine völlig unbekannte Melodie zu summen schloss ich die Augen. Sie klang traurig und wütend zugleich. Es versetzte mir einen Stich ins Herz, ihn so zu sehen. So nah und doch so unerreichbar. Mein schwarzer Schwan. Als er in meine Richtung sah, hätte ich schwören können, dass er mir direkt in die Augen sah. Doch er wendete sich wieder ab und ging an sein Handy, was leise klingelte. Während er sprach sah er ein weiteres Mal in meine Richtung. Er hatte mich also doch gesehen. Langsam drehte ich mich um und ging. Ich hatte hier nichts mehr verloren.

BLACK SWANWo Geschichten leben. Entdecke jetzt