Meine Schritte hallen einsam durch die Straßen, als ich immer weiter und immer schneller durch die Stadt renne. Kalte, schwere Regentropfen laufen über mein Gesicht und vermischen sich mit meinen eigenen heißen Tränen. Meine Haare kleben nass in meinem Nacken und auf meinen langen Wimpern baumeln große Regentropfen, die mir die Sicht nehmen. Doch das alles hält mich nicht auf. Die Dunkelheit liegt tief in den Gassen und verschlingt gierig alles und jeden wie ein riesiges Monster in seinem dunklen Schlund. Die Wellen der nahen Bucht preschen mit voller Wucht an die Felsen und durchbrechen die Stille mit ihrem mächtigen Rauschen.
Eine weitere Gänsehaut legt sich auf meinen Körper und lässt mich erzittern, als mir ein kalter Windstoß die Haare ins Gesicht klatscht. Meine Lippen beben vor Kälte und hätte ich meine Hände nicht zu Fäusten geballt, würden sie wie verrückt zittern. Aber das ist mir egal. Alles ist mir egal. Der Regen, die Kälte, die Dunkelheit ... Mein einziges Bestreben ist, die Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen, die sich seit neun Jahren dort eingenistet haben. Es ist immer dasselbe an diesem Schreckenstag. Ich kann nicht schlafen, also verlasse ich mitten in der Nacht das Haus und beginne zu laufen. Wohin auch immer meine Füße mich tragen.
Völlig durchnässt und durchgefroren biege ich in meine Straße ein. Ein schneller Blick auf meine Uhr sagt mir, dass es sechs Uhr morgens ist. Höchste Zeit nach Hause zu kommen und unter die Dusche zu springen, bevor mein Dad aufwacht und mir eine Predigt hält, weil ich um diese Zeit und bei solch grausigem Wetter das Haus verlasse. Die Alternative wäre, die halbe Nacht in meinem Zimmer auf- und ablaufen und verzweifelt versuchen, mich in den Schlaf zu wälzen. Keine vielversprechende Aussicht.
Das Licht am Horizont beginnt langsam die erschreckende Dunkelheit zurückzudrängen, von einer strahlenden Sonne ist allerdings noch lange nichts zu sehen. Laut schnaufend renne ich die Stufen nach oben und öffne leise die Haustür. Meine nassen und dreckigen Turnschuhe verstecke ich hinter dem Schuhregal, wo sie, ohne Dads Aufmerksamkeit zu erregen, trocknen können. Danach eile ich, ohne das Licht anzuschalten, ins Badezimmer, das direkt neben meinem Zimmer liegt, und entledige mich meiner tropfnassen Kleidung. Zum Glück habe ich mein eigenes, kleines Badezimmer, so muss ich mir wenigstens keine Gedanken um meine durchtränkten Sportsachen in der Badewanne machen. Ein Blick in den Spiegel sagt mir, dass meine Augen leicht gerötet sind von den Tränen, die widerwillig aus meinen Augen gequollen sind, ansonsten sehe ich recht frisch aus. Kein Wunder nach meinem zweistündigen Ausflug im Regen. Mit einem verzwickten Gesicht versuche ich den Haargummi von meinen nassen Haaren zu ziehen, der in einem heillosen Knoten festsitzt. Mit immer noch zitternden Fingern zupfe ich an meinen Haaren herum, was eine größere Herausforderung darstellt, als ich gedacht hätte. Der Zeitdruck in mir steigt. Nicht mehr lange und mein Vater wird aufstehen und nach mir rufen. Ein stummer Schrei liegt mir auf den Lippen, als ich den Haargummi mit Gewalt herunterziehe und dabei einige Strähnen hängen bleiben.
Erleichtert atme ich aus und steige unter die Dusche. Das heiße Wasser fließt an meinem Körper hinab und wärmt meine Glieder wieder auf. Ich schließe genüsslich die Augen und lasse den Wasserstrahl auf meinen Kopf strömen. Nach und nach verschwindet die Kälte und das Zittern hört ebenfalls auf.
Mit einem Handtuch am Kopf und in meinen flauschigen Bademantel gewickelt, schleiche ich in mein Zimmer zurück. Seufzend lasse ich mich aufs Bett fallen und öffne die oberste Schublade meines Nachtkästchens. Ohne hinzusehen, fasse ich hinein und streiche sanft über den weichen Einband eines kleinen Buches.Liebes Tagebuch!
Wie fühlt man sich am Morgen des Geburtstags seiner Mutter, die einen vor neun Jahren grundlos verlassen hat? Mies? Verzweifelt? Deprimiert? Denkt man über den Sinn des Lebens nach? Geht man in aller Frühe aus dem Haus und rennt zwei Stunden im kalten Regen durch die Gegend, um dieser einen Frage auszuweichen, die einen schon jahrelang im Kopf herumspukt? »Wieso hat sie das getan?« Einerseits kann ich nicht begreifen, wie man nur so herzlos sein kann, seine Familie zu verlassen, aber andererseits ist mir meine Mutter schon so fremd, dass ich mir immer wieder sage, ich darf nicht so viel Gehirnaktivität verschwenden, um an diese Frau zu denken.
Trotz meiner Mühen gelingt mir das nicht immer. Heute zumindest nicht. Und das wird es auch nie. Schuld daran ist mein Vater. Jedes Jahr aufs Neue erinnert er mich daran, was heute für ein besonderer Tag ist. Wir kochen Mums Leibgericht, er zieht sich extra schick an und spielt in Dauerschleife ihren Lieblingssong. Fast so, als wäre sie gestorben! Oder schlimmer ... Als wäre sie noch hier und würde plötzlich aus ihrem Zimmer kommen. Immerhin bäckt er ihr keinen Kuchen und bläst selbst die Kerzen aus, das wäre zu viel des Guten!
Eigentlich tut er mir leid. Er hat sie geliebt. Aufrichtig. Aber das war ihr scheinbar zu wenig, denn eines Nachts hat sie ihre Sachen gepackt und uns alleine gelassen. Das Sahnehäubchen war, dass sie nicht einmal einen Abschiedsbrief hinterlassen hat. Keine Erklärung, die wir, wenn man mich fragt, verdient hätten. Wir haben seit diesem Tag nie wieder etwas von Sarah Hale gehört. Kein Brief, keine SMS, keine Karte zum Geburtstag, nichts. Vielleicht ist sie tot und wir wissen es nicht.
Und trotzdem ehrt Dad sie in jedem seiner Gespräche wie eine Heilige. Ein wenig gestört für manch einen, vielleicht sollte er mal zur Therapie, aber wer ist heutzutage schon normal? Außerdem will ich hier nichts Schlimmes über meinen Vater sagen. Frank – ja, ich weiß, was für ein scheiß abgelutschter Name – ist eigentlich ziemlich cool. Er ist groß, schlank, nicht wirklich sportlich, aber auch keine totale Couchpotato.
Und meine Mum ... tja, viel habe ich über sie nicht zu sagen. Ich hasse sie. Mit ihrem Verschwinden hat sie unser Leben zerstört und bisher nichts unternommen, um die Scherben wieder aufzusammeln.
Wieso hat sie das bloß getan? Da ist sie wieder ... Die Frage, die seit neun Jahren unbeantwortet ist und es wohl auch bleibt. Das Problem ist, dass ich es wirklich nicht verstehe, deshalb plagt mich die Frage auch so sehr. Wir waren glücklich, haben viel gelacht, wenig gestritten, meine Eltern haben sich geliebt, ich habe sie geliebt und dann ... aus heiterem Himmel DAS. Ich frage mich ständig, ob wir das Problem gemeinsam hätten lösen können, wenn sie uns nur davon erzählt hätte. Vielleicht wäre sie dann noch hier.
EGAL! Sie ist nicht hier. Sie ist irgendwo anders. Wahrscheinlich in Timbuktu und bürstet irgendwem die Haare in ihrem neuen Frisiersalon. Manchmal stelle ich sie mir mit einer neuen Familie vor. Ein neuer Mann, neue Kinder, ein neues Leben. In solchen Momenten fällt es mir schwer, sie aus meinen Gedanken zu verbannen. Oder nicht traurig zu werden bei der Vorstellung, dass sie glücklich ist. Ohne uns. Ohne mich. Tja, sie regiert eben immer noch meine Gedanken und Gefühle, obwohl sie schon so lange fort ist.
Wie dem auch sei ... ich hasse sie.