Kapitel 6

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Der nächste Tag verlief recht anspruchslos. Han und Ruth haben mich netterweise noch nach Hause gebracht, wir haben wirklich bis zwei Uhr morgens getanzt und hatten noch unerwartet viel Spaß. Gemeinsam mit Matt, versteht sich. Er ist ein wirklich netter Kerl, ich kann ihn recht gut leiden. Han und Ruth haben, nachdem er gegangen war, die ganze Zeit von ihm geschwärmt und gesagt wie toll er doch ist und so freundlich und zuvorkommend und sexy ... Die beiden haben sich richtiggehend in ihn verknallt. Außerdem sind sie besessen von der Vorstellung, Matt und mich zusammenzubringen. Auch, wenn ich ihnen gesagt habe, dass ich das alleine hinkriege – sollte ich das wollen – weiß ich, dass sie doch nicht die Finger davon lassen können. Nein, das würde nicht zu ihnen passen. Außerdem sind wir dahintergekommen, dass Matt und – zu meinem Bedauern – auch sein Bruder Alex ab Montag an unsere Schule gehen, was schon seit Tagen bei uns Gesprächsthema Nummer eins ist. Und ich habe beide vorher kennengelernt. Was für ein Zufall!
Mein Dad kommt aus seinem Arbeitszimmer und setzt sich schweigend zu mir auf die Couch. Es läuft gerade »Castle«.
»Hey Dad, deine Lieblingsfolge läuft!«
»Was?«
»Deine Lieblingsfolge von Castle«, sage ich und sehe ihn von der Seite grinsend an. Er sieht aus, als hätte er einen Geist gesehen und starrt förmlich durch den Fernseher durch.
»Die Folge, wo er denkt, einen Superhelden gefunden zu haben ...«, füge ich murmelnd hinzu und frage mich, was los ist mit ihm.
»Oh ... toll ...«
»Dad, ist alles in Ordnung? Du wirkst ... merkwürdig.«
»Hm?« Endlich sieht er mich an. Sein Gesicht wirkt eingefallen und seine sonst so strahlenden Augen haben all ihren Glanz verloren. Mein Dad sieht aus, als wäre er um fünf Jahre gealtert.
»Nein, alles gut, Spatz«, sagt er und geht zurück in sein Arbeitszimmer. Ich bleibe grübelnd auf dem Sofa sitzen und überlege, was vorgefallen sein kann, dass es ihn so von der Rolle bringt. So habe ich meinen Dad noch nie gesehen. Aber ich weiß auch, dass er mich noch nie angelogen hat und wenn es etwas ist, das ich wissen müsste, dann wird er es mir schon sagen. Einen Moment überlege ich, ihm zu folgen und noch einmal nachzuhaken, als eine Nachricht in mein Handy eintrudelt.
»Hat noch jemand solche Kopfschmerzen wie ich?«, hat Ruth in unsere Gruppe geschrieben, was mich schmunzeln lässt.
»Nein, Ruth. Aber es wundert mich nicht, gestern warst du verdammt gut drauf!«, schreibe ich zurück, woraufhin er einen bemitleidenswerten Smiley schickt. Ruth trank gestern einen Cocktail nach dem anderen. Ich wundere mich immer noch, wie er so viel vertragen kann.
»Oh, du Armer! Soll ich dir eine Suppe vorbeibringen?«, mischt Han sich noch dazu ein.
»Damit du mich dann vollquatschen kannst? Ich verzichte!«
Das lässt mich lauthals loslachen und anscheinend auch Han, denn sie schickt gleich drei Lachsmileys zurück. Die beiden sind eben echt eine Legende! 

»Morgen, Dad«, rufe ich, als ich am nächsten Morgen die Treppen hinunter gehe. Seit gestern Abend habe ich nicht mehr mit ihm gesprochen. Ich fand es besser, ihn erstmal in Ruhe zu lassen. Heute erfahre ich bestimmt mehr. Das hoffe ich jedenfalls.
»Bonjour, Mäuschen«,ertönt aus der Küche, was mein Herz aufgeregte Sprünge machen lässt.
»Martha!«, rufe ich und laufe ihr in die Arme. Martha ist eine kleine, rundlichere Frau mit dunkelbraunen Haaren, die sie stets zu einem Dutt hochgesteckt hat. Sie ist unsere Haushälterin, meine Vertrauensperson, meine Freundin und eigentlich alles, was einer Mutter am nächsten kommt. Ich bin wirklich froh, dass ich sie habe. Und nicht nur, weil sie mein Jausenbrot streicht und unsere Wäsche wäscht. Ich kann mit Martha über wirklich alles reden und sie gibt mir auch immer tolle Ratschläge. Sie ist eine gebürtige Französin, spricht unsere Sprache allerdings fließend. Die Französin in ihr bricht nur durch, wenn sie sich über irgendetwas wahnsinnig aufregt, was – natürlich – nie etwas mit mir zu tun hat.
»Ich habe dich vermisst«, flüstere ich und lasse sie los.
»Oh, ich habe dich auch vermisst, mein Schatz. Wie geht es dir? Wie läufts in der Schule? Gibt es irgendetwas zu berichten?«
Ich lasse meine Schultasche fallen und setze mich auf einen unserer Hocker. »Ähm ... eigentlich gibt es da schon einiges zu berichten, ja ...«
Marthas Blick wird neugierig, als sie sich von der Küche aus zu mir über die Theke beugt. »Na los, spuck es schon aus!«
»Also ... du weißt ja noch Ruth. Dieser Typ, von dem Han und ich dachten, er wäre hinter mir her.« Sie nickt grinsend.
»Es hat sich herausgestellt, dass er schwul ist und eigentlich nur Anschluss gesucht hat.«
Martha reißt die Augen auf und weicht automatisch zurück.
»Ja, es hat uns genauso sehr überrascht! Aber er ist wirklich klasse! Keine Ahnung, warum es so lange gedauert hat, das einzusehen«, füge ich etwas betrübt hinzu.
»Es spielt keine Rolle, wie lange es gedauert hat. Jetzt seid ihr Freunde und es klappt wunderbar. Allein das zählt.«
»Ja, du hast recht. Oh! Und dann habe ich vor zwei Tagen einen wirklich netten Typen kennengelernt, der ab heute auch an unsere Schule geht«, erzähle ich und strample nervös mit den Füßen.
»Das freut mich, Schatz!«
»Sehe ich auch gut aus? Kann ich mich so blicken lassen?« Unsicher schaue ich an mir herunter. Heute habe ich ausnahmsweise meine enge dunkelblaue Jeans angezogen und ein etwas weiter ausgeschnittenes Top. Abgerundet mit meiner Lederjacke, dachte ich, sieht es ganz passabel aus. Außerdem habe ich wieder einmal Ohrringe drinnen, die ich nur sehr selten trage.
»Du siehst so schön aus, wie immer«, sagt Martha und streicht mir lächelnd die Haare aus dem Gesicht. Nach dem Frühstück und den Geschichten von Marthas Familie, die sie besucht hat, gehe ich zur Schule. Es bereitet mir immer noch eine Gänsehaut, an dem Platz vorbeizugehen, an dem so viel passiert ist und ich so viel gesehen habe. Es wird mir garantiert niemals möglich sein, das zu vergessen.
»Lu!«, ruft Han und winkt mich zu sich und Ruth, die tratschend vor meinem Spind stehen. Grinsend weiche ich den anderen Schülern aus, die mir im Weg stehen und umarme die beiden überschwänglich.
»Wow, Lu, warum so gute Laune?« Han lacht und erwidert meine Umarmung.
»Keine Ahnung ...«
»Ich weiß, wieso«, wirft Ruth amüsiert ein und zeigt auf Matt, der ein paar Meter weiter hinten steht und schon mit jemandem ins Gespräch gekommen ist.
»Oh mein Gott!«, hauche ich und drehe mich schnell wieder um. Ich habe ehrlich gesagt, nicht erwartet, ihm so schnell zu begegnen.
»Na komm schon, Lu. Geh zu ihm!«
»Nein! Nein, auf keinen Fall! Er spricht gerade mit jemandem, da kann ich jetzt nicht stören! Nein, ich werde ihn später mal ansprechen, wenn wir alleine sind.« Schnell öffne ich meinen Spind und krame die Bücher hervor, die ich jetzt gleich brauche, dann ziehe ich Ruth und Han von Matt weg, damit er mich nicht dabei erwischt, wie ich versuche, ihn nicht anzusehen.
»Also, wie war euer Sonntag noch so?«, frage ich, um vom Thema abzulenken.
»Pah! Kopfschmerzen ohne Ende!«, meckert Ruth und verzieht das Gesicht. »Aber heute geht es mir wieder blendend!«
»Ich hätte dir übrigens wirklich eine Suppe vorbeigebracht, das war kein Scherz ...«, meint Han kleinlaut und beißt sich nervös auf die Lippen.
»Oh ...« Ruth sieht sie eine Weile abwartend an, als suche er die richtigen Worte. »Naja, aber meine Mum hat mich ohnehin sehr gut versorgt, also ...«
»Schon gut«, lenkt sie ein und grinst. »Und Lu? Was hast du noch so gemacht?«
»Ach, nicht viel.«
»Ich wusste, dass du das sagst!«, ruft sie und verdreht halb lachend halb genervt die Augen. Ruth zwinkert mir belustigt zu.
»Nein, ich habe wirklich nicht viel gemacht. Lang geschlafen, hab dann auf der Couch gefaulenzt und das wars.« Dass mein Dad gestern einen merkwürdigen Tag hatte, dem ich heute auf den Grund gehen will, verschweige ich lieber. Zurzeit gibt es immer mehr Dinge und Ereignisse, die ich vor meinen besten Freunden verschweige. Als die Glocke ertönt, machen wir uns auf den Weg zum Klassenraum. Wir biegen gerade in einen anderen Flur ein, als mich jemand von hinten anrempelt. Ich verliere das Gleichgewicht und falle nach vorne, wodurch ich mit meinen Knien hart am Boden aufkomme.
»Au! Hey, kannst du nicht aufpassen?« Wütend sammle ich meine Sachen ein, die sich auf dem Boden verteilt haben.
»Es tut mir wirklich leid! Ich helfe dir.« Ein Junge streckt mir seine Hand hin. Ich sehe auf und blicke in grün strahlende Augen, die sofort eine gewisse Wärme in mir auslösen. Matt.
»Hi ...«, stottere ich und nehme dankend seine Hand an.
»Hey.« Er lächelt mich an, wodurch sein linker Mundwinkel ein wenig weiter nach oben geht. Wow, am Tag sieht er ja noch besser aus! Hoffentlich kann man das von mir auch behaupten.
»Wird das jetzt zur Gewohnheit, mich umzuschubsen?«, frage ich mit gespielter Ernsthaftigkeit und ziehe die Augenbrauen hoch.
»Tja, um ehrlich zu sein, habe ich dich im Club nicht umgestoßen, das war mein Bruder.«
Ich grinse und lasse mir von ihm hochhelfen, wobei mir der Schmerz in meine Beine kriecht. So weich bin ich eben doch nicht gelandet, aber ich widerstehe dem Drang, jetzt herum zu jammern.
»Ähm ... hi Matt« begrüßt Han ihn freundlich und grinst mich bis über beide Ohren an.
»Ja, hi! Und hallo Ruth! Schön euch wiederzusehen. Und dich auch, Lucy.« Sein Blick schweift zurück zu mir.
Oh mein Gott! Er erinnert sich an meinen Namen! Ich will Luftsprünge machen und Liebeslieder singen!Ach, halt die Klappe Britney! Und komm mir jetzt ja nicht mit deinen »leidenschaftlichen« Blicken!
»Ja dich auch ... ähm ...« Ich beiße auf meine Lippe und versinke förmlich in seinen Augen.
21... 22... 23... So das reicht! Schluss jetzt, hör auf, ihn so anzugaffen!
Ich muss mich beinahe zwingen, den Blick abzuwenden.
»Was machst du hier?«, frage ich, um von meinem merkwürdigen Verhalten abzulenken und räuspere mich.
»Oh, weißt du, ich dachte, ich verschwende mal meine Freizeit und besichtige die Schule.« Er fängt an, spitzbübisch zu grinsen, und lässt mich nicht mehr aus den Augen.
Oh... aber das ist jetzt definitiv ein »leidenschaftlicher Blick«!
»Haha!«, murmle ich und schüttle lachend den Kopf. »Nein, ich wusste, dass du ab heute hier zur Schule gehst. Ich wollte nur wissen, was du ... ähm ... was hast du in der ersten Stunde?«
»Psychologie mit Frau Maier in Klasse 127«, liest er von seinem Stundenplan vor, den er im Sekretariat in die Hand gedrückt bekommen hat.
»Super! Das ist unsere Klasse. Komm, hier geht's lang!« Hannah eilt mit Ruth voraus und lässt uns alleine zurück, was mir im Moment gar nicht recht ist. Am liebsten hätte ich geschrien, sie soll gefälligst zurückkommen, aber das wäre zu auffällig gewesen. Matt und ich gehen langsam hinter Hannah her – wobei ich kaum merklich versuche, unser Tempo zu beschleunigen. Ich verschränke die Arme vor der Brust und kralle meine Finger so fest in meine Lederjacke, dass es beinahe wehtut. Verdammt, was soll ich nur zu ihm sagen? Ich bin nicht gut in Small-Talk ... und schon gar nicht mit jemandem, für den ich offensichtlich Gefühle habe. Nur ein paar ... Mehr eine Schwärmerei als echte Gefühle, ich meine wir kennen uns erst wenige Stunden. Wieso fiel es mir im Club so leicht, mit ihm ins Gespräch zu kommen? Am Alkohol kann es nicht liegen, immerhin war ich völlig nüchtern. Was würde Britney wohl zu ihm sagen? Typisch! Wenn ich sie brauche, ist sie ruhig, aber in den unpassendsten Momenten spukt ihre Stimme ohne Pause in meinen Gedanken herum! Wie immer, wenn ich nervös bin, kaue ich wie süchtig auf meiner Lippe herum. Am Ende des heutigen Tages ist sie bestimmt wieder blutunterlaufen, wenn ich so weitermache. Die Stille, die sich in den Gang geschlichen hat, ist unerträglich. Wo sind die ganzen Schüler, die durch die Flure rennen, laut lachen, streiten oder irgendeinen Blödsinn machen? Ein wenig Ablenkung könnte ich nun gut gebrauchen.
»Ist dein Bruder auch hier?«, fällt mir zum Glück nach einiger Zeit merkwürdigen Schweigens ein.
»Ja, er ist im Abschlussjahr. Eigentlich hätte er seinen Abschluss schon, aber da wir oft gewechselt haben, ist er mit dem Stoff nicht zurechtgekommen und muss jetzt wiederholen.«
»Oh.« Mein Magen zieht sich zusammen.
»Ich weiß, was du denkst«, sagt Matt und reißt mich damit aus meinen Gedanken.
»Hm?«
»Du magst ihn nicht besonders, weil er dich umgeworfen und dir nicht aufgeholfen hat.«
Ich will ihm widersprechen, aber dann hätte ich eine andere Ausrede für mein merkwürdiges Verhalten Alex gegenüber gebraucht. Da ist es mir eindeutig lieber, Matt denkt, ich kann ihn nicht leiden, weil er mich umgekrempelt hat – was natürlich auch dazu beiträgt. Augenblicklich frage ich mich, ob Matt sowas auch schon mal gemacht hat. Oder weiß, dass sein Bruder rumrennt und ausdruckslose Männer zu Staub zerfallen lässt.
»Ich verstehe dich. Er macht auf niemanden einen netten ersten Eindruck, aber er ist wirklich in Ordnung, glaub mir.«
Ich nicke und zwinge ein Lächeln auf meine Lippen, obwohl ich Matt überhaupt nicht zugehört habe. Ich starre ihn von der Seite her neugierig und ein wenig nervös an. Was, wenn er davon weiß? Ob Alex seinem Bruder erzählt hat, dass er mir das Leben gerettet hat? Sollte ich Matt danach fragen? Ich will unbedingt wissen, was das für ein Typ war, der mich angegriffen hat, aber aus Alex bekomme ich wahrscheinlich kein Wort heraus.
»Also ... wir haben letzten Abend ziemlich viel Blödsinn gemacht, aber mir ist aufgefallen, dass ich gar nichts über dich weiß und du wohl auch nicht über mich«, beginnt Matt wieder zu reden, was mich aus meinen Gedanken reißt. Schnell wende ich den Blick ab und zwinge mich, die Gedanken an diesen Tag zu verdrängen.
»Willst du denn etwas über mich erfahren?«, frage ich und grinse ihn neugierig an. Ha! Das war ein guter Schachzug! Das soll mir diese Britney erst mal nachmachen.
»Ja, das würde ich wahnsinnig gerne.« Die Aufrichtigkeit in seiner Stimme lässt mein Herz höherschlagen. Plötzlich fällt mir ein, dass die Glocke schon seit ein paar Minuten geläutet hat und wir immer noch im Flur herumlungern.
»Wir sollten uns beeilen. Frau Maier ist zwar die Freundlichkeit in Person, aber sie hasst es, wenn jemand zu spät kommt!« Eigentlich hassen es alle Lehrer, wenn man zu spät kommt, aber Herr Brown (dieser poisson-tête) und Frau Maier (alias Vogelscheuche) sind am schlimmsten. Matt nickt und eilt mir hinterher durch die Gänge. Zu meiner Erleichterung erreichen wir die Klasse noch vor ihr, sonst hätten wir uns was anhören können. Ich setze mich schnell auf meinen gewohnten Platz neben Hannah und Ruth, die mir ein Lächeln schenken. Matt erwischt einen hinter mir. Ich habe das Gefühl, dass ich noch etwas zu vorhin sagen sollte, sonst könnte er vielleicht denken, dass ich nichts von ihm erfahren will. Ich drehe mich zu ihm um.
»Ich wollte dir noch sagen, dass ich auch gerne mehr über dich erfahren würde«, flüstere ich, damit Hannah uns nicht hören kann. Was völlig unsinnig ist, denn sie spitzt schon die Ohren.
Matt grinst mich sichtlich erleichtert an. »Gut. Reden wir nach der Stunde?«
»Ja.« 

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